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Angriff auf Roma-Siedlung in Kiew

„Erzähle bloß niemandem, dass ich Rom bin!“

Von Mitya Gerasimov (Pushkin Klezmer Band), für tapferimnirgendwo.com aus dem Rus­si­schen über­setzt von Lisa Piesek

Ein wunderbarer Musiker sagte mir, als wir uns ken­nen­lern­ten: „Erzähle bloß nieman­dem, dass ich Rom bin! In der Stadt weiß das kei­ner, ich sage al­len, ich sei Jude.“

Anfang April kamen Maskierte in die Romasiedlung (Schatra) in Kiew. Sie ka­men im Morgen­grauen, foto­gra­fier­ten alle Be­woh­ner und nah­men Fingerabdrücke. Sie be­droh­ten die Men­schen und be­fah­len ihnen, sich zu ver­zie­hen. Man schreibt, diese Razzia sei auto­ri­siert ge­we­sen. Die net­ten Schläger haben kosten­lose Bus- und Zug­tickets ohne Rück­fahrt ver­teilt, die meis­ten Be­woh­ner flo­hen nach Transkarpatien. Aber man sagt, dass auch viele in Kiew über­dauern wol­len und sich zur Zeit ver­stecken. Die Schatra hatte sich bald ge­leert, und als sie ein paar Tage spä­ter an­gezündet wurde (wir berichteten), wa­ren nur noch we­ni­ge Frauen und Kinder vor Ort.

Die Initiative zur Deportation ortsansässiger Roma stammt von lo­ka­len Ab­geord­ne­ten, Ak­ti­vis­ten und Straf­ver­fol­gungs­behör­den. Der Ein­satz wurde im Voraus ge­plant, bei Facebook be­sprach man Proble­me, die mit der Lösung der „Zigeunerfrage“ ein­her­gehen, die Orga­ni­sa­to­ren schrie­ben von der Ver­ant­wor­tung des „Titularvolkes“ und lu­den en­gagier­te Aktivisten in ihre Bür­ger­sprech­stunde ein, einige de­likate Details könne man nicht öf­fent­lich er­örtern.

Dieses Mal wurde die Schatra in Kiew unter dem Vor­wand der Vor­berei­tung zum Eurovision Song Contest ver­wüs­tet, das letz­te Mal ge­schah es im Vor­feld der Fußball-Europa­meister­schaft 2012. Die Ro­ma sind nicht die Ein­zi­gen, die das Bild einer euro­päi­schen Ukraine ver­schan­deln. Vor der EM wurden auch sehr viele Straßen­hunde in Kiew ab­geschlach­tet, da­mals wurde überall darüber ge­schrie­ben. Die deutsche National­mannschaft lief un­ter Protest auf und es fan­den et­li­che Tierschutz­demos in Europa statt. G-tt­sei­dank ist da­mals nie­mand auf die Idee ge­kom­men, die Roma um­zu­brin­gen, aus diesem Grund ist wohl auch der inter­natio­nale Auf­schrei aus­ge­blie­ben.

Solche Sondereinsätze haben eine lange Tradition. Die sowjeti­schen Städte wur­den im Vor­feld von Groß­ver­anstal­tun­gen oder ho­hen Besuchen ver­edelt, indem man die Straßen von „antisozialen Elementen“ säuberte. Vor den Olym­pi­schen Sommer­spielen 1980 wurden Dis­si­den­ten, Arbeitslose, Bettler, Prosti­tuier­te und Alko­ho­li­ker aus Kiew, Moskau Leningrad und Minsk de­por­tiert. Auch die Roma wa­ren da­mals betroffen.

Nach dem 2. Weltkrieg haben viele verstümmelte Veteranen das Stra­ßen­bild be­stimmt. Sie wur­den ein­ge­fan­gen und auf die Ge­fängnis­inseln Solowezki ver­bracht, damit sie mit ihrem erbärm­li­chen Aus­sehen das stolze Bild des Sowjet­menschen nicht ver­un­glimpfen. In den Drei­ßi­ger­jah­ren wurde unter dem Vor­wand, die Bettelei zu be­kämpfen, ein Groß­teil der traditio­nell nomadisch le­ben­den ukrai­ni­schen National­barden (Kobsaren) vom Tscheka ent­führt und ermordet.

Die jüngste Liquidierung der Romasiedlung bekam keine große gesell­schaft­liche Reso­nanz. Ab­ge­sehen vom Jubel der An­wohner in direk­ter Nach­bar­schaft zur Siedlung. Jahre­lang muss­ten sie die wenig an­ge­neh­men Nach­barn er­dulden und jetzt be­dan­ken sie sich laut­stark bei ihren „Befreiern“. Kurz nach dem Brand in der Schatra wurde die Visums­pflicht für die Ukrainer von der EU auf­ge­ho­ben. Die Ukraine ist end­lich in Europa an­ge­kommen!

Was soll man sagen: wer will schon Roma als Nachbarn haben? Den Zorn der Men­schen kann man ja ver­stehen. Sie haben Angst um ihre Sicher­heit, um die Sicher­heit ihrer Kinder. Ja, das Kriminalitäts­niveau ist hoch. (Anm. Lisa Piesek: Mein Freund Mitya Gerasimov ist da leider selbst auf ein Vor­urteil herein­ge­fal­len. Laut Polizei­an­ga­ben wurde im letz­ten Jahr ledig­lich ein Er­mitt­lungs­ver­fah­ren gegen einen Be­wohner des Lagers er­öffnet.) Die Passan­ten werden von den Bett­lern be­lästigt. Manch­mal wird gestoh­len, auch Drogen sind weit ver­breitet. Die Bullen schauen im bes­ten Fall weg, im schlimmsten Fall ku­rie­ren sie die Kriminel­len und wol­len am Geschäft teil­haben. Sozial- und Bildungs­initiativen sind un­populär, denn das ist eine lang­wierige und harte Arbeit. Die Kinder aus der Sied­lung haben eine Spezial­schule besucht, dieser Mög­lich­keit wur­den sie jetzt be­raubt. Die kleinen Erfolge fal­len wenig auf, es ist schwer, politi­sches Kapital daraus zu schlagen. Radika­le Aktio­nen bringen da­gegen einen ordent­lichen Beliebt­heits­schub.

Es ist wahr, dass die Abgeordneten, die die Roma vertrieben haben, einen großen Rück­halt der „ordent­lichen“ Nachbarn ge­nießen. Oft führen sie diese Unter­stützung an, um für die eigene Recht­schaf­fen­heit zu argu­men­tie­ren. Aber auch die „End­lösung“ der Roma- und Juden­frage 1941 wurde sicher­lich von eini­gen ehr­baren Kiewer Bürgern mit Enthu­sias­mus auf­genom­men. Und wie sehr haben sich die An­ständigen wohl nach dem Krieg gefreut, als in einer Nacht Tau­sende dieser stin­ken­den schreien­den Stümpfe, die obdach­losen Krüppel­veteranen, aus der Stadt ver­schwan­den. Auch damals sagte man wohl: „Endlich ist es nachts wieder sicher auf den Straßen.“

Die Roma sind eine der am wenigsten geschützten Gruppen in unserer Gesell­schaft. Natür­lich sind sie nicht die Ein­zi­gen. Aber man er­innert sich ab und zu an die Rechte der Krim­tataren (und auch das erst nach der An­nexion der Krim) und eine öffent­liche anti­semi­ti­sche Bemer­kung ruft sofort einen Sturm der Ent­rüstung hervor. Auch die LGBT-Parade in Kiew konnte vor den An­griffen des Schläger­abschaums be­schützt werden. Aber die Probleme der Roma tauchen im öffent­li­chen Diskurs gar nicht erst auf. Nur wenige Bürger­rechts­akti­vis­ten setzen sich für sie ein, Politi­kern brin­gen sie keinen Nutzen. Man hasst und fürchtet sie ein­fach. Fälle von Dis­krimi­nie­run­gen, Pogromen und Morden werden von nie­man­dem untersucht.

Selbst bekannte Vertreter der Romakultur, wie Igor Krikunov und Petr Cherny, wollen lieber nicht mit den ge­wöhn­l­ichen „un­intellek­tuellen“ Schatra­roma as­so­zi­iert werden. Letz­terer ließ sich sogar von den Ver­tre­tern der „Titularnation“ ein­span­nen und reiste nach der Razzia in die Siedlung, um die Ge­blie­be­nen zum Auszug zu über­reden. Damit wollen die Ak­ti­vis­ten wohl zeigen, dass sie keine Nazis sind: „Schaut her, es gibt auch gute Zigeuner und sie sind mit uns befreundet!“

Eine ethnische Gruppe darf niemals für die Ver­brechen einzel­ner Mit­glieder bestraft wer­den. Dafür müssten eigent­lich die­jenigen zur Ver­ant­wortung ge­zogen werden, die sich rechts­widrig an der ethni­schen Gruppe und ihren Mit­gliedern ver­greifen. Wurde eigent­lich je­mand nach den Pogromen in der Nähe von Odessa* im letzten Jahr vor Gericht ge­stellt und ver­urteilt? Die korrupten Polizisten, Po­litiker und Ak­tivis­ten, die Kiew 2012 und 2017 von den Roma säuber­ten, Men­schen bedrohten, Häuser anzündeten, ganze Familien ent­führten, um sie ir­gend­wo in der Land­schaft aus­zu­setzen, wann wan­dern die end­lich in den Knast? Warum kann unser Bür­ger­meister-Schmür­ger­meis­ter dem Trei­ben der Fascho­abgeord­neten nicht Ein­halt ge­bieten, falls die aktuel­len Ein­schüch­te­run­gen und Säuberungen wirk­lich nur ihrer Privat­initia­tive ent­stammen? Oder wur­den sie viel­leicht doch aus dem Rat­haus befohlen?

*) Anmerkung von Lisa Piesek: Vor einem Jahr gab es in einem Dorf in Bessarabien, in dem et­li­che Ethnien seit Jahr­hun­der­ten fried­lich zusam­men­lebten, einen grau­samen Mord an einem neun­jährigen Mäd­chen. Der Ver­däch­tige, Sohn einer Bulgarin und eines Roms, stritt die Tat ab. Kurz nach seiner Fest­nahme rot­te­te sich ein Mob aus ca. 300 auf­ge­brach­ten Dorf­be­woh­nern zu­sam­men und ver­anstal­tete ein Pogrom gegen die Romagemeinde. Fenster­scheiben und Möbel wurden zer­schlagen, ein Haus wurde an­gezündet. Laut of­fi­ziel­len An­gaben wurde nie­mand ver­letzt. Später wurde die ge­samte Gemeinde un­ter Polizei­schutz aus dem Dorf deportiert.

Über den Autor: Mitya Gerasimov ist Journalist, Musiker und Grün­der der ukrai­ni­schen Puschkin Klezmer Band. Er ist in der Republik Tatarstan ge­boren und auf­gewach­sen und lebt seit neun Jahren in der Ukraine, wo er das kul­tu­relle Erbe ost­euro­päi­scher Juden und anderer Ethnien er­forscht. Mitya Gerasimov arbei­tet mit Musi­kern aus aller Welt zu­sam­men. 2013 und 2014 unter­stütze er die Massen­proteste in der Ukraine und trat auf dem Maidan auf.

(Text: tapferimnirgendwo.com)

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