
Fast während der gesamten Corona-Pandemie fanden Abschiebungen in die sogenannten Westbalkanstaaten statt. Aus Baden-Württemberg geht fast jeden Monat eine Sammelabschiebung dorthin. Immer sind Roma dabei. Für Roma ist Baden-Württemberg das schlimmste Bundesland, was Bleiberecht angeht.
Die Behörden sind anscheinend der Meinung, es sei egal, wo man sich in einer weltweiten Pandemie befinde, da man sich überall anstecken könne. Das Roma Center/ RAN hat bereits letztes Jahr in einer Artikelserie darüber berichtet, welche Auswirkungen, die Bedingungen haben, in denen Menschen leben.
Der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg hat jetzt einen Bericht vorgelegt, in dem er darlegt, wie die Covid-19-Pandemie in Albanien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien, Serbien und Kosovo die bestehenden Probleme im Gesundheitssystem und die Probleme beim Zugang zu Gesundheitsversorgung verschärft hat. Hier eine Zusammenfassung:
Die Überlastung des Gesundheitswesens, fehlende Krankenversicherung und hohe selbst zu tragende Eigenanteile (selbst für Personen mit Krankenversicherung) treffen in der Pandemie auf den Wegfall zahlreicher Möglichkeiten der Erwerbsarbeit. Dadurch entsteht eine große Gefahr, im Bedarfsfall keinen Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben. Auch alte und chronisch kranke Menschen werden abgeschoben, die ein erhöhtes Risiko eines schweren oder tödlichen Krankheitsverlaufs haben.
Obwohl es in den genannten Ländern (außer im Kosovo) bestehende Krankenversicherungssysteme gibt, ist der Zugang zu Gesundheitsversorgung vor allem für Roma, Personen in ungeregelten Arbeitsverhältnissen und Menschen mit geringem Einkommen nicht gleichberechtigt und teilweise nicht ausreichend.
Die Pandemie stellt die Gesundheitssysteme dieser Länder vor massive Probleme und führt dazu, dass lebensnotwendige Gesundheitsversorgungsleistungen nicht oder nur gegen Bezahlung beträchtlicher Kosten erhältlich sind.
In Serbien haben journalistische Recherchen ergeben, dass die Behörden im ganzen Land bei der Anzahl der verstorbenen Covid-19-Patient*innen viel zu niedrige Werte angegeben haben. Die tatsächliche Totenzahl von März bis Juni war mehr als doppelt so hoch wie die offizielle Zahl.
Schon beim Testen auf Covid-19 kommt es zu erheblichen Verzögerungen, weil Hausärzt*innen mit der Vergabe von Terminen für Tests nicht hinterherkommen, und weil nicht genügend Tests zur Verfügung stehen. Es gibt generell zu wenig Ärzt*innen. In den Krankenhäusern fehlt es an Personal, Schutzausrüstung, Medikamenten und medizinischem Gerät.
Der jüngste Bericht der Europäischen Kommission stellt fest, dass rund ein Fünftel der Bevölkerung nur sehr begrenzten Zugang zu Gesundheitsversorgung hat und dass rund 18% der Bevölkerung aus finanziellen Gründen keine Gesundheitsversorgung in Anspruch nimmt. Davon besonders betroffen sind Roma. 80% von ihnen nimmt aus finanziellen Gründen seltener gesundheitliche Dienste in Anspruch, knapp die Hälfte gab die schwere räumliche Erreichbarkeit der medizinischen Einrichtungen an. Romnja erhalten eine schlechtere Qualität der Behandlung als albanische oder serbische Frauen.
Studien berichten von zahlreichen Fällen, in denen Roma von der Inanspruchnahme von Gesundheitsdienstleistungen ausgeschlossen wurden. Frauen sind im Kosovo besonders stark von Armut bedroht, und dies gilt umso mehr für Romnja. Diese Problematik hat sich durch die Pandemie weiter verschärft, weil viele Arbeitsstellen, die häufig von Frauen besetzt waren, weggefallen sind.
Fast alle Behandlungen außer Covid-19, Herzinfarkte, Schlaganfälle und schwere Unfallverletzungen werden bereits seit der ersten Welle im Frühjahr auf unbestimmte Zeit verschoben.
Bereits vor der Covid-19-Pandemie konnten sich in Nordmazedonien 68 % der Roma die erforderlichen Zuzahlungen für Leistungen der Gesundheitsversorgung nicht leisten und erhielten daher nicht die notwendigen Medikamente und Behandlungen. Besonders stark betroffen sind Abgeschobene, weil sie in vielen Fällen ein Jahr lang vom Bezug von Sozialhilfe ausgeschlossen sind und deshalb die Zuzahlungen leisten müssen.
Gerade für Menschen mit Behinderungen fehlen oft adäquate Behandlungs- und Unterbringungsmöglichkeiten. Die Zustände in Heimen für Menschen mit Behinderung sind mehrfach kritisiert worden.
In 30 von 80 Gemeinden Nordmazedoniens gibt einen erheblichen Mangel bei Haus-, Kinder- und Frauenärzt*innen. Des Weiteren gebe es lange Wartezeiten auf Termine bei Fachärzt*innen. Häufig werde Patient*innen empfohlen, auf das private Gesundheitssystem auszuweichen, was aber angesichts der Kosten und des niedrigen Durchschnittseinkommens nur für die wenigsten eine Option ist. Zudem müssten Patient*innen regelmäßig für Medikamente bezahlen, die eigentlich kostenfrei sein sollten.
Da die Länder der Region in Sachen Impfung weit hinter dem Tempo der EU-Länder liegen, ist zu befürchten, dass die Auswirkungen der Pandemie noch lange anhalten werden.
Fazit: Es macht einen Unterschied, ob man in Deutschland an Covid-19 erkrankt oder in einem Land, in dem die Überlebenschancen davon abhängen, ob man selbst oder die Familienangehörigen genügend Geld haben, um erforderliche Medikamente zu kaufen und die Behandlung aus eigener Tasche zu bezahlen. Ebenso macht es einen Unterschied, ob man in einem Land lebt, das die finanziellen Ressourcen hat, sich Millionen Impfdosen zu sichern oder nicht.
Gerade für Menschen ohne signifikante finanzielle Mittel – dazu dürften die meisten Abgeschobenen gehören – ist nicht ersichtlich, wie sie im Falle einer Covid-19-Erkrankung die erforderliche Behandlung bekommen können. Die zwangsweise Rückführung von tausenden Menschen aus dem Covid-19-Hotspot Deutschland in eine Region, die sich in einer noch viel prekäreren Situation befindet als Deutschland, gefährdet auch die Gesundheit vieler Menschen in den Zielländern. Es wäre zu wünschen, dass deutsche Behörden und Gerichte diese Umstände zur Kenntnis nehmen und bei ihren Entscheidungen zur Durchführbarkeit von Abschiebungen in die Westbalkan-Region berücksichtigen.
Seán McGinley, Flüchtlingsrat Baden-Württemberg: Abschiebungen in die Westbalkan-Region während der Covid-19-Pandemie, Februar 2021.