Home » Artikel » Klage gegen Schulsegregation in Nordmazedonien erfolgreich

Klage gegen Schulsegregation in Nordmazedonien erfolgreich

Foto : copyright errc

Klage gegen Schulsegregation in Nordmazedonien erfolgreich

In einer wichtigen Entscheidung vom 13. Dezember 2022 hat sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in der Sache Elmazova u.a. gegen Nordmazedonien mit der Diskriminierung von Roma im Bildungsbereich in Nordmazedonien befasst. Konkret ging es um die seit vielen Jahren immer wieder auftretende Praxis der Segregation in Schulen. Dieser Text erläutert die Hintergründe in den vom Gericht entschiedenen Fällen. In einem weiteren Text, der demnächst erscheinen wird, nehmen wir diese Entscheidung zum Anlass, um auf die vielfältigen Erscheinungsformen der von Roma in Nordmazedonien erfahrenen Diskriminierung und Ausgrenzung hinzuweisen, und stellen außerdem dar, wie diese Erfahrungen seitens staatlicher Stellen in Deutschland delegitimiert werden, um eine Schutzbedürftigkeit geflüchteter Roma zu verneinen.

Im aktuellen Fall entschied das Gericht über zwei verschiedene Klagen von insgesamt 87 Personen (Kinder und ihre Eltern), die vom European Roma Rights Centre unterstützt wurden. In einem Fall hat eine Grundschule in Štip drei parallele erste Klassen eingerichtet, wovon eine (mit Ausnahme eines einzigen Kindes) aus Roma bestand, während in den beiden anderen Klassen die Kinder gemischt waren. In dem zweiten Fall hatten weiße Familien in Bitola ihre Kinder nicht in der eigentlich vorgesehenen Schule, die überwiegend von Roma besucht wurde, angemeldet, sondern in einer anderen nahegelegenen Schule, so dass die erste Schule faktisch zu einer reinen Roma-Schule geworden war. In dieser Schule waren (Stand 18. September 2019) 83,5% der Schüler:innen Roma, in der anderen Schule – die nur 600 Meter entfernt ist von der ersten – nur 2,5%.

Foto : copyright errc

Auf dem Papier bzw. nach Gesetz entscheidet der Wohnort grundsätzlich darüber, welche Schule Kinder und Jugendliche zu besuchen haben. Nur in Ausnahmefällen wird Eltern auf Antrag erlaubt, ihre Kinder in eine andere als die vorgesehene Schule zu schicken. Doch genau das passiert immer wieder, nämlich wenn ein hoher Anteil von Kindern aus der Roma-Community an einer Schule ist. Dieses Phänomen wird als „White Flight“ bezeichnet.

Die Klagenden berichteten, dass solche Wechsel fast ausschließlich für weiße Kinder beantragt und ausnahmslos von der aufnehmenden Schule genehmigt wurden. Inwiefern auch Roma die Möglichkeit hatten, die Schule zu wechseln, ist strittig. Genau dies war eines der Argumente, die die nordmazedonische Regierung gegen die Klage vorbrachte – die Betroffenen hätten auch auf Antrag die Schule wechseln können. Zwar teilte eine der betroffenen Schulen mit, dass in den Jahren 2016 bis 2019 nur drei Roma einen Wechsel auf die andere, mehrheitlich von weißen Kindern besuchte Schule, beantragt haben, und diese Wechsel alle genehmigt worden seien, doch die Kläger:innen  berichteten, dass ihnen in vielen Fällen mündlich gesagt worden sei, dass sie bzw. ihre Kinder nicht wechseln dürften.

Doch der EGMR stellte fest, dass diese Frage nicht entscheidend sein darf. Angesichts des eklatanten Unterschieds in der ethnischen Zusammensetzung zweier Grundschulen, die nur 600 Meter voneinander entfernt sind, sei der Staat in der Pflicht, etwas zu unternehmen. Diese Verantwortung dürfe nicht den einzelnen betroffenen Familien zugeschoben werden, die schließlich nichts anderes gemacht haben, als ihre Kinder ordnungsgemäß in die vorgesehene Schule zu schicken.

Foto : copyright errc

In dem Fall aus Štip stellt das Gericht fest, dass die Schule wohl tatsächlich versucht hat, etwas gegen das Segregationsproblem zu unternehmen, z.B. durch die Forderung an die Stadt, die Einhaltung des Grundsatzes der Anmeldung an der zuständigen Schule durchzusetzen, durch gezielte Werbung um Anmeldung von Kindern mazedonischer Ethnizität, sowie durch Umverteilung der Schüler:innen, um die Klassen ausgewogener zu machen. Diese Maßnahmen seien aber im ersten Fall an der Untätigkeit der Stadt und in letzteren beiden Fällen vor allem am Widerstand der (weißen) mazedonischen Eltern gescheitert.

Der EGMR stellte in 83 Fällen Verletzungen von Artikel 14 (Schutz vor Diskriminierung) und Artikel 2 (Recht auf Bildung) fest und wies den nordmazedonischen Staat an, die diskriminierenden Praktiken zu beenden und darüber hinaus den Betroffenen Familien jeweils Schadenersatz in Höhe von 1200 Euro zu zahlen.

Das Verfassungsgericht von Nordmazedonien hatte zuvor entschieden, dass diese Praxis keine Diskriminierung darstelle. Es hatte sich der Argumentation der Regierung angeschlossen, wonach zum einen die Eltern die Möglichkeit gehabt hätten, ihre Kinder auf eine andere Schule zu schicken, und zum anderen, dass es überall – also auch in „Roma-Klassen“ oder „Roma-Schulen“ eine gleich gute Bildung geben würde. Mit dem gleichen Argument („Separate but equal“) wurde bis in die 1950er Jahre in den Südstaaten der USA die Segregation von weißen und schwarzen Menschen in weiten Teilen des öffentlichen Lebens juristisch legitimiert. Auch dort war die „Gleichwertigkeit“ eine Fiktion.

Das ganze juristische Prozedere dauerte etwas über fünf Jahre. Die nordmazedonische Regierung hat sich bis zuletzt gegen die Klage gewehrt. Das ERRC wies darauf hin, dass die Antidiskriminierungskommission sich bereits Anfang 2022 mit dem Fall befasst und eine rechtswidrige Segregation festgestellt hatte. Die Kommission hatte eine strengere Handhabung der Regeln bezüglich des Besuchs der zuständigen Schule (als Maßnahme gegen „White Flight) gefordert. Obwohl die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen innerhalb von sechs Monaten umzusetzen sind, ist nichts geschehen.

Diese Fälle zeigen sehr anschaulich, wie institutionelle Diskriminierung funktioniert und wie einfach es ist, sie zu übersehen und zu leugnen, wenn man das möchte. Das gilt für die Behörden und Gerichte in Nordmazedonien ebenso wie in Deutschland.

BulgarianCroatianEnglishFrenchGermanItalianPortugueseRussianSerbianSpanishTurkish