
In der Nacht vom 18. auf den 19. September 2023 flog ein Molotowcocktail in ein Sinti-Camp in San Giorgio a Colonica in Prato, Italien. Der Brandsatz soll aus einem langsam vorbeifahrenden Fiat Punto geworfen worden sein, berichten Bewohner:innen. Der LKW eines Arbeiters aus der Siedlung brannte ab. Nur wenige Meter vom Brand entfernt lagerten Gasfalschen. Die Bewohner:innen löschten den Brand selbst, und niemand wurde verletzt.
Die Ermittlungen laufen noch. Für die Bewohner:innen ist jedoch klar, dass es sich um einen rassistisch motivierten Anschlag handelt, denn einige haben die Tat beobachtet. Und es ist auch nicht das erste Mal, dass das Camp ins Visier geraten ist. In 2019 hat Giovanni Donzelli, Abgeordneter der rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia, an dieser Siedlung eine Rede gehalten und gesagt: “Orte wie diese müssen dem Erdboden gleichgemacht werden. Sucht euch einen Job, ein Haus, der Spaß ist vorbei”. Donzelli ist der Parteikollege der neuen italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni.
Iacopo Melio, ein Regionalabgeordneter der Demokratischen Partei, hat das Camp nach dem Anschlag besucht und erwähnte auf seiner Facebook-Seite, dass die Siedlung seit Donzellis Rede „systematisch rassistischen Anfeindungen ausgesetzt“ sei. Auf einer Kundgebung in der Nähe des Sinti-Camps, die am 23. September von Selbstorganisationen der Roma und Sinti organisiert worden war, fordern die Bewohner:innen „die Polizei auf, die Verantwortlichen zu ermitteln und die Community zu schützen, um weitere Angriffe zu verhindern, die zu einem Massaker führen könnten…“
Miguel, der Arbeiter, dessen LKW abgebrannt ist, sagte: “Wir haben eine Nacht in den Flammen verbracht mit der Angst, alles zu verlieren, was wir haben. Zum Glück wurde niemand verletzt, aber mein Lastwagen, mit dem ich zur Arbeit fahre, ist verkohlt, und ich habe nicht die Möglichkeit, einen neuen zu kaufen. So kann der Hass nicht über unser Leben siegen.“
In einem Gespräch mit der öffentlichen Verwaltung vor Ort forderte die Roma-Organisation Movimento Khetane die Installation von Kameras auf der Straße zum Camp, Feuerlöscher in öffentlichen Bereichen des Ortes, finanzielle Hilfe für die Familie, die ihr Arbeitsgerät verloren hat, und eine Intervention bei der Polizei, um den reibungslosen Verlauf der Ermittlungen sicherzustellen.
Die lokale Politik scheint sich solidarisch mit den Angegriffenen zu zeigen. Das täuscht jedoch nicht über das politische Klima hinweg, in dem sich Italien befindet, und das den ideologischen Weg für solche Angriffe bereitet. Immer wieder wurden Politiker:innen der drei aktuell regierenden Parteien (Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia) mit Hetz- und Hassreden gegen Roma und Geflüchtete auffällig. Seit 2022 bilden die drei rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien die italienische Regierung, an deren Spitze Georgia Meloni steht und deren Stellvertreter Salvini und bis zu seinem Tod Berlusconi waren. Besonders Berlusconi und Salvini haben in der Zeit, als sie Ministerpräsident bzw. Innenminister waren, drastische Maßnahmen gegen Roma geplant und durchgesetzt.
Der Hass rechtsextremer Politiker:innen in Italien richtet sich immer wieder gegen Roma und Sinti. Donzelli war zwar wegen seiner Äußerungen angezeigt worden, jedoch sind rechtliche Schritte an seiner Immunität als Abgeordnetem gescheitert. Matteo Salvini hatte immer wieder gefordert, Siedlungen der Roma und Sinti zu registrieren und einen ethnischen Zensus durchzuführen (was in Italien verfassungswidrig ist). Welches Ziel das haben sollte, war klar: “Wir brauchen eine Massensäuberung, Straße für Straße, Piazza für Piazza, Viertel für Viertel.“ es handelt sich um eine offen faschistische Aussage, die an die Ideologien und Maßnahmen der Nazis und anderer Faschist:innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anknüpft, darunter Mussolini.
Unter Berlusconis Ministerpräsidentschaft war ein ähnlicher Plan, der sogenannte „Nomadenplan“, der mit der Verhängung des Notstands (und somit auch der außerordentlichen Machtbefugnisse für Behörden) einherging, tatsächlich durchgeführt worden. Amnesty International dazu: „Roma wurden mit einer gesetzeswidrigen, auf ethnischer Zugehörigkeit basierenden Volkszählung ins Visier genommen und des Schutzes vor rechtswidrigen Zwangsräumungen beraubt. In Folge des Ausnahmezustands wurden Tausende Roma in mehreren italienischen Städten obdachlos. Überdies wurden Roma vermehrt in weit abgeschiedenen Siedlungen untergebracht, die durch die italienischen Behörden angelegt worden waren.“
In 2011 und 2013 ergingen Gerichtsentscheidungen, die die Verhängung des Notstandes für rechtswidrig erklärten. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Verhängung des Notstandes der Bevölkerung suggeriert hat, Roma stellten eine Gefahr dar. Roma werden immer wieder mit Kriminalität in Verbindung gebracht – ein rassistisches Stereotyp, das Figuren wie Berlusconi und Salvini gerne bedienen, um „Recht und Ordnung“ durchsetzen. Dabei fassen sie Pläne (und führen sie ggf. auch durch), die rechts- bzw. verfassungswidrig sind.
Zu rechtswidrigen Räumungen von Roma-Siedlungen kommt es nach wie vor. Die Zwangsgeräumten, einschließlich Kinder, bleiben häufig obdachlos zurück. Allein für die Jahre 2017-2021 hat das European Roma Rights Centre (ERRC) Kenntnis von mindestens 187 Räumungen, von denen 3156 Menschen betroffen waren. Dabei erfolgt ein Großteil der Räumungen an internationalen rechtlichen Standards vorbei, und auch Anordnungen des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte werden ignoriert: In 2019 wurde Italien vor mindestens zwei Räumungen, von denen insgesamt etwa 750 Menschen betroffen waren, aufgefordert, sie erst zu räumen, wenn alternative Unterkünfte gefunden wären. Dem kam die Regierung nicht nach und viele der Bewohner:innen wurden obdachlos.
Laut ERRC sind Polizeirazzien und Zwangsräumungen seit vielen Jahren zwei der häufigsten Formen staatlicher Gewalt gegen Roma. In 2022 wurde zum Beispiel in einem Roma-Camp auf Sizilien eine Großrazzia durchgeführt, weil einige Bewohner:innen illegal Müll entsorgt haben sollen. Zehn Männer wurden verhaftet, das gesamte Camp geräumt und die Frauen und Kinder in Notunterkünften untergebracht.
Im Juli 2022 drangen vier Polizist:innen ohne Durchsuchungsbeschluss in die Wohnung einer Roma-Familie ein und bedrohten, fesselten und folterten den gehörlosen Rom Hasib Omerović im Beisein seiner ebenfalls behinderten Schwester. Hasib hatte angeblich Mädchen in der Nachbarschaft belästigt. Der junge Mann „fiel“ schließlich aus dem Fenster und brach sich zahlreiche Knochen. Ob er gestoßen wurde oder aus Angst vor seinen Peinigern selbst sprang, ist unklar. Er verbrachte viele Monate auf der Intensivstation, einen Teil davon im Koma. Seine Familie musste umziehen, da sie sich in ihrer Wohnung nicht mehr sicher fühlte. Das Verfahren gegen die Beamt:innen ist noch nicht abgeschlossen. Ihnen wird neben Folter auch die Fälschung des Dienstprotokolls vorgeworfen.
Die staatlichen Maßnahmen und institutionelle Diskriminierung gegen Roma sind nur ein Teil des Problems. Das andere ist, dass die Propaganda und die Maßnahmen gegen Roma durch den Staat und die Politik in der Gesellschaft ein Klima der (zumindest gefühlten) Straflosigkeit erzeugen, das Hass und Gewalt gegen Roma als legitimes Mittel erscheinen lässt, wenn der Staat der von führenden Politiker:innen inszenierten „Bedrohungslage“ in den Augen der Zivilbevölkerung nicht angemessen begegnet.
Falsche Gerüchte/ Fake News führen regelmäßig zu „Selbstjustiz“ gegen Roma. Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Übergriffen durch den Mob auf Roma und ihre Siedlungen. Diese gingen auch von rechtsextremen Gruppierungen wie CasaPound und Forza Nuova aus. In 2011 beschuldigte eine Person zwei Roma, sie vergewaltigt zu haben (die Anschuldigung zog sie später zurück). Daraufhin wurden Flyer mit der Aufforderung verteilt, die Gegend, in der Roma lebten, zu „säubern“. Ein Mob fiel in die Roma-Siedlung ein, zündete alles an und vertrieb die Menschen.
Auch Brandanschläge sind keine Seltenheit. In 2019 wurden z.B. Wohnwagen von Sinti angezündet und auf einen der Bewohner geschossen, als er aus seinem brennenden Wagen floh. Es gab zahlreiche Übergriffen auf Einzelpersonen aus der Roma-Community und Migrant:innen, einschließlich Kinder, darunter ein 13monatiges Roma-Mädchen.
Wir befinden uns nun in einer brandgefährlichen Periode. Italien wird nicht nur von drei Parteien regiert, die für ihre Propaganda und Maßnahmen gegen Roma, Migrant:innen und andere Menschen, die Rechten ein Dorn im Auge sind, bekannt sind. Bald beginnt nun auch der Wahlkampf zu den Europawahlen 2024, und diese Periode wird von rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien gerne genutzt, um Hetze gegen die genannten Gruppen zu verbreiten.
Mitte September 2023 fand in Budapest der Demographie-Gipfel statt, zu dem Viktor Orbán und die ungarische Präsidentin Novák rechte und ultrakonservative Politiker:innen aus aller Welt eingeladen hatten, um über „Familienpolitik“ zu diskutieren. Auf der alle zwei Jahre durchgeführten Veranstaltung propagieren die Beteiligten „traditionelle Familienwerte“. Dieses Jahr wollten allerdings viele europäische Politiker:innen wegen Orbáns Haltung zum Ukrainekrieg nicht teilnehmen. Meloni hält ihrem Freund Orbán und Mussolinis ihrem Motto „Gott, Vaterland, Familie“ jedoch die Treue.
Das Thema Migration gehört zu den Dauerbrennern der europäischen Rechten, und auch in Italien schlachtet man das Thema gerne populistisch aus. Als Mitte September Tausende von Geflüchteten auf der italienischen Insel Lampedusa innerhalb weniger Tage ankamen, sprach Salvini von einem „Akt des Krieges“ und drohte, die Regierung werde keine Art der Intervention ausschließen. Seine Wortwahl impliziert dabei auch den Einsatz von Gewalt, die dann aus seiner Sicht als „Verteidigung“ zu werten sei.
Wenn wir Salvinis drastische Wortwahl beiseite lassen, kommen wir bei der europäischen Politik gegen Geflüchtete an, nämlich den aktuell geplanten drastischen Verschärfungen in der Asylpolitik, die sogenannte Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Finden bereits jetzt systematische Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen statt, so wird sich diese Lage in Zukunft noch gravierend verschlechtern.
Italien spielt dabei wegen seiner Lage am Mittelmeer, über das viele Menschen nach Europa fliehen, eine zentrale Rolle. Nach dem Dublin-System ist das EU-Land für ein Asylverfahren zuständig, über das die Geflüchteten in die EU gekommen sind. Das heißt, Italien hat ein großes Interesse daran, dass möglichst wenige Geflüchtete dort ankommen oder sie gewaltsam zurückzudrängen (Pushbacks). Hierfür geht die EU dann Abkommen mit Regierungen ein, die es mit Demokratie und Menschenrechten nicht so genau nehmen. Das neueste dieser Abkommen hatten vor ein paar Monaten Georgia Meloni, Ursula von der Leyen und der niederländische Ministerpräsident mit Tunesien abgeschlossen, damit das nordafrikanische Land Flüchtende davon abhält, nach Europa zu kommen. Dass solche Deals nicht zu weniger Geflüchteten führen, sondern zu mehr Menschenrechtsverletzungen auf der Flucht, liegt auf der Hand.
Während Meloni sich mit Ursula von der Leyen wegen der Situation auf Lampedusa traf, begrüßte Salvini seine gute Freundin Marine Le Pen, die Vorsitzende der französischen rechtsextremen Partei Rassemblement National. Diese kritisierte Meloni dafür, dass sie nicht entschieden genug gegen „Migranten“ vorgehe, während Salvini in seiner Zeit als Innenminister gezeigt habe, wie es geht.
Untersuchungen des ERRC zu Italien u.a.:
Zu den Asylrechtsverschärfungen in Europa: https://heimatkunde.boell.de/de/2023/06/08/das-drohende-ende-des-fluechtlingsschutzes-europa-die-geas-reform-und-ihre-folgen