
Was nach dem Kosovokrieg 1999 folgte, war die größte Katastrophe für Roma seit dem Zweiten Weltkrieg. Etwa 150.000 Roma wurden Opfer der ethnischen Säuberung durch die Kosovo-Albaner:innen, aus der Region vertrieben und ihrer Häuser und sonstigen Eigentümer beraubt. Ein Teil dieser Menschen floh als Binnenvertriebene (IDP) in die anderen Gebiete Jugoslawiens. Die UN-Verwaltung im Kosovo (UNMIK) und das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) richteten Lager für die Binnenvertriebenen ein, darunter in Nord-Mitrovica, dem hauptsächlich von Serb:innen bewohnten Teil der gespaltenen Stadt, in der es bis heute regelmäßig zu Konflikten zwischen Albaner:innen und Serb:innen kommt.




Roma hatten lange Zeit in Mitrovica gelebt – Fabrička Mahalla im Süden der Stadt war mit etwa 8000 Bewohner:innen die größten Roma-Siedlung des Kosovo gewesen. Die Menschen hatten hier in normalen Häusern gelebt und wurden nach dem Krieg gewaltsam gezwungen, diese Häuser zu verlassen. Die Albaner:innen haben das Eigentum der Roma geplündert und die Häuser abgebrannt. Häufig waren nur noch Ruinen ihre Häuser übrig. Die Roma haben bis heute keine Möglichkeit mehr, dorthin zurückzukehren oder ihr Eigentum zurückzubekommen.
Die IDP-Camps in Nord-Mitrovica wurden 1999 und 2000 auf dem Gelände einer Bleischmelzanlage errichtet, die erst im Jahr 2000 stillgelegt wurde. Das Gebiet – die Erde, das Wasser und die Luft – waren hochgradig von Blei und anderen Schwermetallen belastet. Blei ist für den Menschen hochgiftig und schädigt insbesondere kleine Kinder, sowie Schwangere und das sich entwickelnde Kind im Mutterleib. Eine Bleivergiftung kann zahlreiche Schäden verursachen, darunter schwere und irreversible Hirn- und Nervenschäden, und zum Tod führen.

600 bis 700 Roma wurden auf diesem Gelände untergebracht. Viele der Familien gehörten zu den Vertriebenen aus Fabrička Mahalla. Etwa die Hälfte davon waren Kinder unter 14 Jahren, gehörten also zu der Personengruppe, die besonders vulnerabel für Bleivergiftungen ist. Die Camps sollten nur für wenige Monate als Unterkunft dienen. Aus den Monaten wurden jedoch Jahre. Die Lager wurden erst zwischen 2010 und 2013 aufgelöst.

Bereits im Jahr 2000 hat ein russischer Arzt der UN, Dr. Andrej Andrejev, durch Untersuchungen festgestellt, dass die Bewohner:innen hohe Mengen an Blei im Blut hatten und der UNMIK und der WHO (Weltgesundheits-Organisation) die sofortige Evakuierung empfohlen. Die UNMIK schickte jedoch anschließend lediglich Polizist:innen aus ihren eigenen Reihen zurück in ihr Herkunftsland Frankreich, da bei ihnen auch erhöhte Bleiwerte gefunden wurden. Die Binnenvertriebenen verblieben in den Lagern.
In den folgenden Jahren wurden weitere Studien durchgeführt, unter anderem von der WHO selbst. Sie alle belegen die hohe Bleibelastung der Gegend und die hohe Bleikonzentration in den Körpern der Bewohner:innen. Die Bleikonzentration in der Erde lagen Messungen zufolge an manchen Stellen bei mehr als dem 20fachen dessen, was als gesundheitsschädlich gilt. Die WHO empfahl schließlich die sofortige Evakuierung der Bewohner:innen. Es wurde lang und breit darüber diskutiert, was mit den Menschen geschehen soll und welche Organisation die Verantwortung habe. Jedoch folgten keine Taten.
Diese ersten Gesprächen über etwaige Umsiedlungen, zu denen keine der betroffenen Familien eingeladen waren, fanden nicht lange nach den Pogromen von 2004 statt, als Kosovo-Albaner:innen wieder zahlreiche Übergriffe auf Serb:innen und Roma verübten und ihre Häuser abbrannten. In diesem Kontext wurden tatsächlich kurzfristig bedrohte Roma evakuiert. Jedoch blieb eine solche Unterstützung für die vergifteten Roma in Nord-Mitrovica aus, obwohl ihre Lage genauso lebensbedrohlich war. Manche Kinder hatten höhere Bleikonzentrationen in ihren Körpern als sie durch die Instrumente der WHO messbar waren.

Den Bewohner:innen der Camps selbst hat lange Zeit niemand erklärt, warum sie und ihre Kinder krank werden. Die kleine Jenita ist vier Jahre alt, als sie am 22. Juli 2004 an Bleivergiftung stirbt. Sie ist das erste Todesopfer. Ihre folgen zahlreiche weitere Kinder und Erwachsene. Niemand weiß genau, wieviele Menschen an Bleivergiftung und ihren Folgen starben. Auch Jenitas kleine Schwester Nikolina wird wenige Monate später in Belgrad behandelt. Der behandelnde Arzt kann es nicht fassen, dass das Lager nach wie vor offen ist und sagt, Nikolina würde sterben, wenn sie dorthin zurückkehre. Die GfbV musste die Medikamente besorgen. Das war allerdings nicht so leicht, galt Bleivergiftung doch überall, nicht nur in Serbien, als ein Problem der Vergangenheit, das heute nicht mehr vorkomme.
Frauen erlitten Fehlgeburten, viele Menschen wurden schwer krank, Kinder kamen mit unheilbaren Hirnschäden zur Welt. Kinder fielen immer wieder in komatöse Zustände. Ärzt:innen, die Kinder untersucht hatten, empfahlen sofortige Evakuierung, da die Behandlungen nutzlos seien, wenn die Menschen permanent weiter vergiftet würden. Ärzt:innen prognostizierten, dass Kinder, die in den Camps gezeugt worden waren, nur wenige Jahre überleben würden. Da die Menschen keine Verhütungsmittel hatten, führten Frauen Abtreibungen herbei, um diesen Kindern ein kurzes Leben, das nur aus Leid bestanden hätte, zu ersparen. Rukija stirbt am 13. Juli 2005 bei der Geburt ihres Kindes, wenige Stunden später stirbt das Baby. Laut Arzt wahrscheinlich aufgrund der Bleivergiftung. Rukijas Tochter Kasandra war bereits zweimal wegen Bleivergiftung im Belgrader Krankenhaus behandelt worden.
Jedoch waren es nicht nur die Schwermetalle, die die Menschen krank machten. Die generelle Versorgungslage in den Camps war schlecht. Die sanitäre Versorgung war mangelhaft. Zeitweise gab es gar kein frisches Wasser, teilweise nur wenige Stunden am Tag, und die Menschen mussten mehrere Kilometer weit laufen, um Wasser zu holen. Im Camp selber gab es einen Brunnen mit toxischem Wasser. Die Menschen hatten nicht genug zu essen, es fehlte an Hygienprodukten. Es kam zu Epidemien. Paul Polansky, der u.a. viele Jahre für die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) vor Ort war, berichtet etwa von Ringelflechte, einer ansteckenden Pilzinfektion, die alle Kinder befallen habe. Auch die Traumatisierung durch den Krieg und die Vertreibung und das jahrelange Leben in Unsicherheit und Angst machten die Menschen krank. Alles in allem lebten diese Menschen über viele Jahre in einer sowohl körperlich als auch psychisch toxischen Situation.
Es waren insbesondere Paul Polansky und die GfbV, die sich für diese Menschen und ihre Evakuierung eingesetzt haben. Ein Teil der Menschen wurde auch tatsächlich verlegt – allerdings auf ein Gelände nicht weit von dem vorherigen. Und das war ebenfalls verseucht. Es gab offene Briefe an diverse Internationale Organisationen sowie eine Anhörung im Europaparlament. Im Auftrag der GfbV entnahm der renommierte Umweltmediziner und Spezialist für Vergiftungen mit Schwermetallen, Klaus-Dietrich Runow, Haar- und Blutproben der Binnenvertriebenen. Was er fand waren die seines Wissens nach höchsten Bleiwerte, die jemals in menschlichem Haar gemessen wurden. Zudem enthielten sie extrem hohe Kadmium- und Arsenwerte.
Ab 2005 hat die internationale Menschenrechtsorganisation European Roma Rights Centre interveniert und den UNHCR, die UNMIK und die lokalen Behörden aufgefordert, die Menschen sofort zu evakuieren und medizinisch zu versorgen. Ohne Erfolg. Seit 2005 führt die us-amerikanische Menschenrechtsanwältin Dianne Post, zunächst noch für das ERRC, im Auftrag von ca. 190 Geschädigten einen juristischen Kampf um Entschädigung.
Was seitdem folgte, waren und sind endlose Bemühungen, die beteiligten Internationalen Organisationen zur Rechenschaft zu ziehen und rechtliche Anerkennung und individuelle Entschädigung für die betroffenen Menschen zu erreichen. Das ERRC reichte Klage gegen die UNMIK als „Regierung“ des Kosovo beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unter anderem wegen Verstößen gegen das Recht auf Leben und wegen Diskriminierung ein. Darüber hinaus forderte die Menschenrechtsorganisation, dass die Opfer unverzüglich aus den bleiverseuchten Lagern gebracht und medizinisch behandelt werden müssten. Sie reichte zudem Beschwerde bei verschiedenen UN-Organen ein.
Bei dem Geschacher um die Umsiedlung der Binnenvertriebenen aus den bleiverseuchten Lagern, ging es auch um die Frage, wohin. Primäre Idee war, sie in ihre alte Siedlung in Süd-Mitrovica zurückzubringen. Allerdings war die nur noch ein Schutthaufen. Der ausschließlich aus Kosovo-Albaner:innen bestehende Stadtrat von Mitrovica wollte dies zudem verhindern, da er auf dem Land der Roma einen Stadtpark bauen wollte (und es später auch tat). Laut Polansky wollte die Roma-Delegation ihr eigenes Land zurück, das Zusammenleben aller Roma und eine Mauer um ihr Viertel, um die Bewohner:innen zu schützen, sowie eine Fußgängerbrücke zur Nordseite, falls sie wieder fliehen müssten.
Die Camps wurden erst in den Jahren 2010-2013 aufgelöst. Das ist mehr als ein Jahrzehnt, in dem die „Internationale Gemeinschaft“ es nicht geschafft hat, ein paar Hundert Opfer der ethnischen Säuberungen, die Binnenvertriebenen aus dem Kosovo, die alles verloren haben, was sie einmal hatten, auf ein nicht-verseuchtes Gebiet umzusiedeln und ihnen angemessen medizinische, psychologische, soziale Unterstützung zu gewähren. Oder gar eine Schulbildung für die Kinder.
Nur eine der Familien konnte mit Unterstützung der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen 2006 nach Deutschland fliehen und erhielt angemessene medizinische Versorgung: Der Witwer von Rukija, die mit ihrem Neugeborenen im Juli 2005 gestoben war, und ihre Kinder. Es hätte ein Leichtes sein können, die Familien in die Länder zu evakuieren, die sich an dem Krieg gegen Jugoslawien beteiligt hatten. Jedoch gab es hier wohl keinen politischen Willen, schoben viele westliche Staaten doch schon die Geflüchteten aus dem Kosovo ab, die sie hatten aufnehmen müssen. Manche dieser Abgeschobenen landeten dann in den bleiverseuchten Lagern, da sie keinen anderen Ort mehr hatten, an den sie zurückkehren konnten.
Bis heute will keine der verantwortlichen Organisationen die Verantwortung übernehmen, geschweige denn den Menschen eine Entschädigung zahlen.
Dianne Post führt im Auftrag der Geschädigten seit mehr als 15 Jahren unermüdlich Beschwerden und Klagen gegen diese Institutionen. Nach 10 Jahren erzielten sie einen großen Erfolg: Das Beratende Gremium für Menschenrechte (Human Rights Advisory Panel, HRAP) befand 2016, die UNMIK der Bleivergiftung von Roma-Communities in ihren Camps für verantwortlich und wies die Organisation an, den Opfern Abhilfe zu leisten, einschließlich einer finanziellen Entschädigung. Jedoch ist dies bis heute unterblieben unterblieben.
Die UN hat lediglich einen Treuhandfonds ohne Mittel einrichten lassen, der der Roma-Community zugute kommen soll. Jedoch wurden in diesen Fonds nur einmal 10.000$ eingezahlt (von Katar). Eine individuelle Entschädigung ist nicht nur aus rechtlichen und ethischen Gründen geboten, sondern auch bitter notwendig. Wie aus den Untersuchungen der GfbV hervorgeht, leidet ein Großteil der Geschädigten bis heute unter chronischen Erkrankungen, hat körperliche und psychische Schäden davongetragen und die meisten leben in einer existentiell bedrohlichen Lage. Das geht aus einer Studie hervor, die die GfbV 2017 veröffentlicht hat.
Kaum jemand hat Arbeit, und wenn, dann nur prekär. Ein Viertel der Personen hat nicht einmal Zugang zu Wasser und Strom. Viele können die entsprechenden Rechnungen nicht bezahlen, haben keine Fensterscheiben in ihren Unterkünften und versinken im Müll, da sie die Müllabfuhr nicht bezahlen können. Manchen fehlt es an Geld für Lebensmittel, vielen an Geld für medizinische Versorgung. Viele der Kinder gehen nicht zur Schule, weil die Wege zu lang sind, sie Angst vor rassistischen Übergriffen haben, weil sie krank sind und hungern.
Die GfbV fordert weiterhin von der UN und der UNMIK ihre Verantwortung einzugestehen, die geschädigten Personen bzw. die Angehörigen der Verstorbenen individuell zu entschädigen und sich zu entschuldigen. Außerdem fordert die Menschenrechtsorganisation nach wie vor die medizinische Versorgung der Menschen und dass Roma bei Projekten, die sie betreffen, konsultiert werden. Darüber hinaus stellt sie auch generelle menschenrechtliche Forderungen an den Kosovo bzw. fordert von den EU-Staaten die erlebte Diskriminierung im Kosovo als Asylgrund anzuerkennen.
Aus der Untersuchung geht hervor, dass nur ein Teil der Befragten in den Lagern wegen Bleivergiftung behandelt worden ist. Nach der Auflösung der Lager erhielten noch weniger Personen (88% der Befragten) eine Behandlung. Aus den Umfragen geht jedoch nicht hervor, welche Art von Behandlung die Menschen in den Camps bekamen. Die verantwortlichen Organisationen versuchten nämlich, die Bleiwerte im Blut der Kinder durch fettarme Milch zu reduzieren, was jedoch laut Polansky nicht effektiv genug ist, angesichts der teilweise extremen Werte, die die Kinder aufwiesen, und weil die Kinder weiter dem Blei ausgesetzt blieben.
Im November 2022 haben die Harvard Law School International Human Rights Clinic und Opre Roma Kosovo den Bericht Toxic Injustice. Translating UN Responsibility Into Remediesfor Lead-Poisoned Roma vorgelegt. In diesem bahnbrechenden Bericht analysiert die renommierte Law School
die „Art und Weise, wie die UN rechtliche Verfahren manipuliert hat, um sich der Verantwortung für ihr Fehlverhalten im Kosovo zu entziehen.“
Die oben erwähnte Entscheidung des Human Rights Advisory Panel (HRAP) im Jahr 2016 „war das Ergebnis eines jahrzehntelangen Rechtsstreits, in dem die UN die Opfer auf eine wilde Verfolgungsjagd zwischen ihren internen Rechenschaftsmechanismen schickte. Nachdem die UN die Illusion eines gerichtlichen Prozesses geschaffen hatte, der für Gerechtigkeit sorgen könnte, missachtete sie anschließend die Ergebnisse des HRAP und ließ die Opfer ihre Verletzungen ertragen, ohne ihnen zu helfen oder die Möglichkeit zu haben, sie wiedergutzumachen.“
***
Kurz vor seinem Tod haben wir im Februar 2020 ein Online-Event mit Paul Polansky zu den bleiverseuchten Lagern gemacht. Die Aufzeichnung der Veranstaltung kann hier angesehen werden.
Dianne Post vertritt nicht nur die ehemaligen Bewohner:innen der bleiverseuchten Lager. Sie ist auch eine der beiden rechtlichen Vertreter:innen der Kosovo Roma Rights Coalition, die das Roma Center mit vielen weiteren Roma-Organisationen in der Diaspora gegründet hat, um Gerechtigkeit für die vertriebenen Roma aus dem Kosovo einzufordern.
Weitere Quellen des Artikels:
Dianne Post: Vergiftet in UN-Flüchtlingslagern; in: Für Vielfalt. Zeitschrift für Menschen- und Minderheitenrechte, Ausgabe 05/2021, S. 34f.
Wichtige Hintergrund-Informationen aus unserem Artikel stammen von Paul Polansky, die er selbst veröffentlicht hat (u.a. 2005 in der International Herald Tribune) oder uns vor seinem Tod zur Verfügung gestellt hat. Seine Mitarbeiter:innen aus der Roma-Community werden hier nicht namentlich genannt, um sie zu schützen. Sie waren für die Arbeit unentbehrlich und sind zum Teil selber in den Lagern krank geworden.
Das Roma Center hat bei mehreren Recherchereisen in den Kosovo die verbliebenen und abgeschobenen Roma, die Opfer der ethnischen Säuberungen geworden waren, besucht und ihre Situation unter anderem hier veröffentlicht: https://alle-bleiben.info/roma-im-kosovo-und-serbien/
