Kriminalisiert Göttinger Zeitung Roma-Kinder?
Ende August 2024 ist in der Göttinger Lokalzeitung ein weiterer Artikel erschienen, der „rumänische“ Kinder aus der Groner Landstraße (und nun auch mal wieder aus dem Idunazentrum) problematisiert. In einem Artikel im Mai wurden die Kinder auf Grundlage eines „Brandbriefes“ von drei Grundschulen als unbeschulbar dargestellt. Der jetzige Artikel titelte „Wurden Grundschüler mit Eisenstanden bedroht?“ und bezieht sich auf die Aussagen anonymer Mütter einer der Grundschulen. Eine „besorgte Mutter“ berichtet von „Vorfällen mit Eisenstangen, die offen auf dem Schulhof liegen“. Warum Grundschulkinder offenen Zugang zu potentiell gefährlichem Baumaterial haben, wird nicht in Frage gestellt. Der Sohn der besorgten Mutter sei „von Kindern, die ebenfalls in dieser Schule sind“ bedroht worden. Später im Artikel ist dann lediglich von einem Vorfall mit einer Eisenstange die Rede.
Dem Roma Center liegt die Aussage eines (deutschen) Kindes vor, das ebenfalls auf diese Schule geht und den Vorfall mit der Eisenstange anders wahrgenommen hat: Ältere Grundschulkinder übernehmen sogenannte Patenschaften für neu eingeschulte Kinder. Bei besagtem Vorfall sollen ältere Grundschüler:innen auf einen Erstklässler zugegangen sein und versucht haben, ihm zu erklären, dass sie ihm die Schule zeigen wollen. Der neue Schüler kann aber noch kein Deutsch und hat nicht verständen, was die älteren Kinder von ihm wollten. Er habe dann eine Eisenstange genommen. Das Kind, das die Szene beobachtet hat, vermutet, dass er sich bedroht gefühlt habe und sich habe schützen wollen. Der Erstklässler habe dann auch versucht, über einen Zaun vor den älteren Kindern zu fliehen. Das Kind, von dem die Aussage stammt, geht weiterhin gerne auf die Schule und hat keine Angst.
Auch nach Aussage einer Mutter, deren Tochter auf die Schule geht, gibt es ein Problem mit Rassismus an der Schule, an dem man arbeiten müsse. Alle drei Brandbrief-Schulen werden primär von Kindern akademischer Eltern besucht und sind überwiegend „weiß“. Die Roma-Kinder aus Rumänien haben eine gänzlich andere Herkunft als die durchschnittliche Schülerin an besagten Grundschulen. Sie kommen aus einer stark marginalisierten Situation. Diese ist das Erbe der nicht aufgearbeiteten Verfolgung von Roma in Rumänien, wo sie bis Mitte des 19. Jahrhunderts fast 500 Jahre versklavt waren. Während des Zweiten Weltkrieges hat das mit Deutschland verbündete Land mehr als 25.000 Roma nach Transnistrien deportiert. Kaum die Hälfte von ihnen hat überlebt.
Sklaverei und Deportation wurden nie aufgearbeitet und sind in der rumänischen Dominanzbevölkerung wenig bekannt. Rassismus gegen Roma ist in erheblich höherem Ausmaß vorhanden als das heute in Deutschland der Fall ist. Schulsegregation, also die getrennte Beschulung von Roma-Kindern auf schlechteren Schulen ist gängig, ebenso weitere Formen institutioneller Diskriminierung. Rumänien wurde allein zwischen 2015 und 2019 mehr als 20mal wegen Polizeigewalt und dem Versagen des Justizsystems Misshandlungen durch die Polizei zu ahnden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Und das sind nur Fälle, bei denen Menschen etwas gegen die Misshandlungen durch die Polizei unternommen haben. Roma gehen meist nicht rechtlich gegen ihnen angetanes Unrecht vor, da ihnen das Vertrauen in das System fehlt und/ oder, weil sie es sich nicht leisten können.
Während der Corona-Pandemie kam es zu einem erheblichen Ausmaß an Polizeigewalt, einschließlich gegen Kinder aus der Roma-Community. Aber auch darüber hinaus gibt es ein Problem mit Hate Speech und rassistisch motivierter Gewalt gegen Roma in Rumänien.
Viele Roma leben nach wie vor in segregierten Siedlungen, denen es vielfach am Zugang zu sauberem Wasser und Strom fehlt. Untersuchungen haben ergeben, dass etwa die Hälfte der rumänischen Roma in der Nähe von Mülldeponien lebt, wie eine Untersuchung über Umweltrassismus gegen Roma in Europa schreibt. Auch gut ausgebildete Roma, einschließlich Akademiker:innen, finden aufgrund von Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt kaum Arbeit in Rumänien.
Aufgrund des Rassismus in Rumänien und seiner Folgen, vor allem der gesellschaftlichen Marginalisierung, kommen einige Roma-Familien nach Deutschland. Auch hier finden sie vielfach nur Wohnungen in den prekarisierten Wohnquartieren wie der Groner Landstraße 9. Die Erfahrungen von Diskriminierung und rassistisch motivierter Gewalt bringen sie mit. Dass ein Kind sich von älteren Kindern aus der Mehrheitsbevölkerung bedroht fühlt, erscheint vor diesem Lichte betrachtet, normal.
In dem Artikel werden Grundschulkinder als „vermeintliche Täter und Täterinnen“ bezeichnet. Angesichts des Duktus des Artikels gehen wir davon aus, dass die Autorin das Wort „vermeintlich“ nicht ironisch gemeint, sondern mit „mutmaßlich“ verwechselt hat. Von dem sprachlichen Fehler abgesehen, kriminalisiert der Artikel damit Roma-Kinder weit jenseits der Strafmündigkeit. Die Kriminalisierung gehört zu den zentralen Konstruktionen, auf denen historisch die Verfolgung und in der NS-Zeit ihre Vernichtung aufgebaut wurde. Die Kriminalisierung lebte nach dem Krieg und dem Völkermord fort. Dass der rassistisch motivierte Genozids jahrzehntelang nicht anerkannt worden ist, basierte auf dem Urteil, dass Roma nicht aus Rassismus verfolgt und vernichtet worden seien, sondern wegen ihres eigenen Verhaltens.
Während im Titel des Artikels noch ein Fragezeichen steht, setzt die Autorin in ihrem Kommentar die Bedrohung als Fakt. Das vermeintliche Verhalten eines Kindes dient ihr dann dazu, allgemeine kriminalisierende Schlussfolgerungen über die Zukunft kleiner Kinder zu ziehen und mit der banalen These zu schließen, Bildung sei der Schlüssel zu Integration.
Dabei ignoriert sie in Gänze die Vorschläge, die wir zur Unterstützung der Kinder und der Schulen Stadt und Kultusministerium unterbreitet haben und die der Zeitung seit Mai vorlagen. Diese haben wir hier veröffentlicht: https://ran.eu.com/rumanische-roma-kinder-in-gottingen-eine-einschatzung-und-hintergrunde-der-roma-aus-rumanien/.
In diesem Artikel haben wir bereits angesprochen, warum der Diskurs antiziganistisch ist, obwohl Roma mit keinem Wort direkt erwähnt, aber als solche gelesen werden.
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Zu Transnistrien siehe: https://ran.eu.com/porjamos-und-widerstand-die-deportation-der-rumanischen-roma-nach-transnistrien/
Zur Sklaverei in Rumänien siehe: https://ran.eu.com/roma-in-rumanien-500-jahre-sklaverei/




