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Bildungsdiskriminierung in Nordmazedonien und ihre Verharmlosung in Deutschland

Delegitimierung von Fluchtgründen, Legitimierung eines ausgrenzenden Status Quo

Die Fälle, über die der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte am 13. Dezember 2022 in der Sache Elmazova u.a. gegen Nordmazedonien entschieden hat, zeigen sehr anschaulich, wie institutionelle Diskriminierung funktioniert und wie einfach es ist, sie zu übersehen und zu leugnen, wenn man das möchte. Die Entscheidung ist ein guter Anlass, um sich näher anzuschauen, wie Behörden und Gerichte in Nordmazedonien und auch Deutschland mit dem Thema Segregation und Ausgrenzung von Roma im nordmazedonischen Bildungssektor umgehen.

In den Unterrichtungen der Bundesregierung zur Einstufung der „Sicheren Herkunftsstaaten“ sowie in den ablehnenden Entscheidungen des BAMF und der Verwaltungsgerichte finden sich bestimmte wiederkehrende Muster, wenn es um die Frage geht, ob die Situation der Roma in Nordmazedonien durch Diskriminierung und Ausgrenzung in verschiedenen Lebensbereichen so schlimm ist, dass sie eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Dabei wird beispielsweise festgestellt, dass „Eine systematische, gezielte staatliche Repression gegen Minderheiten“ (eine kumulative Aufzählung von drei Kriterien) nicht stattfindet, und dass der Zugang zum staatlichen Bildungs- und Gesundheitssystem allen ethnischen Gruppen“ offensteht (auch wenn es „vor allem im staatlichen Gesundheitssystem glaubwürdige Berichte von in Einzelfällen festgestellten Benachteiligungen“ von Roma gibt), und dass der Roma-Bevölkerung in diesen Fällen (also den „Einzelfällen“, in denen sie benachteiligt werden) grundsätzlich ein staatliches Kontroll- und Beschwerdesystem zur Verfügung (z. B. Ombudsmann). Das ist alles soweit richtig, aber es ist eine äußerst oberflächliche Betrachtung, die das Wesentliche außer Acht lässt.

Wie der EGMR in der eingangs erwähnten Entscheidung ausführt, hat der Ombudsmann bereits 2011, und dann nochmal 2012 und 2015, die Segregation in den von der aktuellen EGMR-Entscheidung betroffenen Schulen benannt, mit konkreten aktuellen Zahlen belegt und die zuständigen Behörden aufgefordert, Abhilfe zu schaffen. Über zehn Jahre nach den ersten Versuchen, dieses Problem über die in Nordmazedonien existierenden Institutionen anzugehen, musste der EGMR Ende 2022 feststellen, dass die Segregation weiterhin besteht. Unterdessen ignoriert die nordmazedonische Regierung die Empfehlungen der Antidiskriminierungskommission, bestreitet, dass es hier eine Diskriminierung gibt und hat vom Verfassungsgericht auch noch Recht bekommen.

Das alles zeigt, dass die vorhandenen Beschwerde- und Rechtsschutzmechanismen eben nicht wirksam sind und dass das bei deutschen Behörden und Gerichten in zahlreichen Textbausteinen wiederholte Argumentationsmuster, die bloße Existenz von entsprechenden Institutionen und Gesetzen würde eine Diskriminierung ausschließen, ein Trugschluss ist. Es existiert zwar mindestens eine Entscheidung, wonach die Diskriminierung von Roma im Bildungsbereich dermaßen schwerwiegend ist, dass sie eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Aber diese stellt einen äußerst seltenen Ausreißer aus der allgemeinen Entscheidungspraxis dar.

Bundesregierungen, egal welcher parteipolitischen Zusammensetzung, ziehen es aber vor, woanders nach Erklärungen für die mangelnde Bildungsteilhabe zu suchen. In der aktuellen Unterrichtung der Bundesregierung zu den „Sicheren Herkunftsstaaten“ findet sich der Satz: „Trotz zahlreicher aus dem Ausland finanzierter Projekte ist es immer noch nicht gelungen, dafür zu sorgen, dass alle Roma-Eltern ihre Kinder zur Schule schicken“. Dieser Satz findet sich sinngemäß auch in den entsprechenden Berichten der Bundesregierung der Jahre 2017 und 2019, das heißt es stellt sowohl die Sicht der Großen Koalition als auch der Ampel-Regierung dar.

Da keine weiteren Faktoren zur Erklärung der geringen Bildungsteilhabe der Roma genannt werden, kann dieser Satz nur so verstanden werden, dass die Bundesregierung der Auffassung ist, dass die Roma selbst schuld sind an ihrer überwiegend schlechteren Bildung und dementsprechend schlechteren wirtschaftlichen Lage. Die Unterstellung mangelnden Interesses an Bildung und mangelhafter Kindererziehung gehört zum Standardrepertoire rassistischer Klischees gegen Roma, die Schuldumkehr ist seit jeher ein probates Mittel zur Delegitimierung von Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen und zur Rechtfertigung eines diskriminerenden und ausgrenzenden Status Quo.

Die rumänische Roma-Aktivistin Dr. Margareta Matache fasst dieses Phänomen folgendermaßen zusammen: „Beispiele von Nicht-Roma-Lehrer:innen, die sich weigern, Roma-Kinder in Schulen einzuschreiben, gibt es seit den Anfängen des öffentlichen Bildungswesens, aber die Racecraft von einer ‘Roma-Kultur, die keinen Wert auf Bildung legt’, macht bequemerweise immer wieder Roma-Eltern und ihre Kultur dafür verantwortlich.“ Und auch der Regional Cooperation Council weist darauf hin, dass Aussagen, die darauf hinauslaufen, dass umfangreiche und finanzstarke Programme zur Verbesserung der Roma wirkungslos bleiben, rassistische Stereotype verstärken, wonach Roma die Fähigkeit oder der Wille fehlen würde, sich helfen zu lassen oder zur Verbesserung ihrer eigenen Situation beizutragen.

In flüchtlingspolitischen Diskursen bietet diese Schuldumkehr die Möglichkeit, um Roma in die Kategorie derjenigen Geflüchteten einzusortieren, die nicht hilfsbedürftig bzw. -würdig seien, und gleichzeitig das Selbstbild der sich als überaus großzügig und hilfsbereit sehenden Aufnahmegesellschaft aufrecht zu erhalten – „Wir helfen gerne, aber nur den tatsächlich hilfsbedürftigen“, so die Devise. Deshalb ist dieser Satz gerade in einem Bericht, dessen Sinn darin besteht, darzulegen, dass Nordmazedonien weiterhin die Voraussetzungen für die Einstufung als „Sicherer Herkunftsstaat“ erfüllt, von besonderer Bedeutung.

Argumentationsmuster dieser Art ziehen sich wie ein roter Faden durch Bundestagsdebatten von den 1990er Jahren (Einführung des Konzepts des „Sicheren Herkunftsstaates“) bis ins 21. Jahrhundert (Diskussion um Wiederaufnahme von Abschiebungen in den Kosovo, Diskussion um Einstufung der sechs Westbalkanstaaten als „Sichere Herkunftsstaaten“) und finden sich regelmäßig in Lageberichten der Bundesregierung, BAMF-Bescheiden und Gerichtsurteilen. Wenn die mangelnde Bildungsteilhabe von Roma nur eine Folge der Ignoranz der Eltern in Bezug auf die Wichtigkeit der Bildung ist, dann muss man sich nicht mit der Frage befassen, ob hier eine möglicherweise menschenrechtlich (und damit auch im Asylverfahren) relevante Diskriminierung vorliegt. Die Feststellung „Selber schuld!“ bewahrt vor den Anstrengungen entsprechender Überlegungen.

Vielfältige Erklärungen, aber Diskriminierung als Konstante

Man muss nicht einmal besonders tief unter die Oberfläche schauen, um festzustellen, dass es eine ganze Fülle von Aspekten gibt, die – von Fall zu Fall in unterschiedlichem Maße – dazu beitragen, dass deutlich weniger Roma zur Schule gehen, dass deutlich mehr Roma die Schule früher abbrechen und deutlich weniger Roma Bildungsabschlüsse erlangen.

Tatsächlich ist die Segregation durch „White Flight“ bzw. durch „Roma-Schulen“ und „Roma-Klassen“, die in der aktuellen EGMR-Entscheidung hervorgehoben wurde, nur ein Aspekt in dem vielfältigen Gesamtbild, wenn es um die Hürden zur gleichberechtigten Teilhabe im Bildungsbereich für Roma in Nordmazedonien geht. Es gibt eine große Bandbreite von Hürden, die von einem konkreten Fall zum anderen mal mehr, mal weniger ins Gewicht fallen können. Eine Schlechterstellung der Roma gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen ist aber eine Konstante, die immer wieder auftaucht.

So kommt es weiterhin vor, dass die Förderschulen für Schüler:innen mit Behinderungen erheblich überproportional viele Roma unter ihren Schüler:innen haben – eine Phänomen, das auch in Deutschland weit verbreitet ist, wie unter anderen der Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus festgestellt hat. Obwohl ein Kind eigentlich nur in eine Förderschulen eingeteilt werden soll, wenn zuvor eine Diagnose und eine Kategorisierung der Behinderung durchgeführt worden ist, was durch entsprechende Unterlagen bei der Anmeldung in der Schule zu belegen ist, geschieht die Anmeldung der Roma-Kinder in Förderschulen vielfach unter Missachtung dieser Vorschrift.

Die geringe Anzahl von Lehrer:innen aus der Roma-Community führt dazu, dass der gesetzliche Anspruch auf Unterricht in der Sprache Romanes in der Praxis nicht umgesetzt wird. Dies führt dazu, dass Kinder aus Romanes-sprachigen Familien mangels Kenntnisse der mazedonischen Sprache de facto von Bildung ausgeschlossen sind. Eine weitere Folge ist, dass das Unterrichtsfach „Sprache und Kultur der Roma“ nur an sechs Schulen im ganzen Land unterrichtet wird, und das nur für wenige Stunden pro Woche – obwohl alle Roma-Schüler:innen das Recht haben, in diesem Rahmen über ihre Sprache und Kultur zu lernen – ein Recht, von dem auch nicht alle Eltern wissen.

Neben den Gründen, die auf Seiten der Schulen zu suchen sind, gibt es natürlich auch Gründe, die in den familiären Lebensumständen der Kinder begründet sind, die aber komplexer sind als eine vermeintliche Uneinsichtigkeit der Eltern. Häufig spielt Armut eine Rolle. Zwar ist der Schulbesuch an sich kostenlos, ebenso die Bücher, dennoch stellt es für einige eine Hürde dar, wenn das Geld für angemessene Kleidung oder sonstige Ausstattung fehlt. Während der Pandemie hat sich die Bildungsteilhabe von Kindern und Jugendlichen aus der Roma-Community noch weiter verschlechtert, da viele von ihnen keinen Zugang zu der nötigen technischen Ausstattung hatten, um am Online-Unterricht teilzunehmen.

In einigen Familien brechen (ältere) Kinder die Schule ab, um sich um jüngere Geschwister zu kümmern oder um zum Familieneinkommen beizutragen, da es keine andere Möglichkeit gibt, um die Existenz der Familie zu sichern. Es gibt also auch andere Gründe als schlicht fehlendes Interesse, wenn Eltern nicht immer darauf bestehen, dass ihre Kinder zur Schule gehen. In einigen Gemeinden hat es Maßnahmen gegeben, die darauf abzielten, faktische Barrieren, wie die eben genannten, abzubauen. Häufig waren dies aber nur zeitlich befristete Projekte.

Nach wie vor gibt es besondere Problematiken für Kinder aus Familien, die (z.B. nach einer Abschiebung) aus dem Ausland zurückkehren, mitunter nach mehrjähriger Abwesenheit. Ohne eine Meldeadresse und Identitätsdokumente kann keine Anmeldung in der Schule erfolgen.

Anfang 2022 trat ein neues Gesetz in Kraft, das für die Personen, die keine offiziellen Dokumente haben, Abhilfe schaffen sollte. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich, aber überwiegend, um Roma. Ohne Geburtsurkunden sind sie von wesentlichen Rechten und Teilhabemöglichkeiten ausgeschlossen. Das neue Gesetz sah vor, dass diese Personen vorübergehende Dokumente erhalten, die ihnen den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, Sozialleistungen und zum Sozialversicherungssystem ermöglichen würde. Binnen 30 Tage nach Ausstellung dieser vorübergehenden Papiere seien dann „reguläre“ amtliche Dokumente auszustellen, so die Intention des Gesetzes. Allerdingsberichten NGOs, dass die Behörden ihrer Pflicht zur Ausstellung der Dokumente nicht immer nachkommen, und dass darüber hinaus die temporären Dokumente nicht anerkannt werden, sodass die betroffenen Personen – entgegen der Intention des Gesetzes – weiterhin von essentiellen Diensten der Daseinsfürsorge ausgeschlossen bleiben. Zudem werden rückkehrenden Kinder in nicht-altersgemäße Klassen eingeteilt. Wer zum Beispiel als Erstklässler ins Ausland geht und fünf Jahre später wiederkommt, muss in der zweiten Klasse weitermachen.

Um das Bild zu vervollständigen: Auch Roma mit guten Bildungsabschlüssen finden deutlich seltener eine ihrer Qualifikation angemessene Erwerbsarbeit – was sich wiederum auf die Motivation, sich um gute Bildung zu bemühen, auswirkt. Die Entscheidung, sich darauf zu konzentrieren, sich im informellen Wirtschaftssektor irgendwie durchzuschlagen anstatt sich um eine „reguläre“ Beschäftigung zu bemühen, oder seine Zeit mit der Sammlung von Wertstoffen zu verbringen anstatt an Maßnahmen der Arbeitsvermittlung teilzunehmen, kann also durchaus auch ökonomisch betrachtet rational sein.

Dem Problem der unzureichenden Bildungsteilhabe von Roma in Nordmazedonien ist also das Ergebnis eines vielschichtigen Komplexes unterschiedlicher Ursachen und Phänomene, die ganz überwiegend mit Diskriminierung zusammenhängen. Zu dieser Einsicht gelangt allerdings nur, wer sich erstens vorurteilsfrei und zweitens etwas tiefergehend mit dem Thema beschäftigt – zwei Bedingungen, die deutsche Behörden, Gerichte und Regierungen jeglicher Zusammensetzung seit Jahrzehnten beständig missachten.

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