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Institutioneller Rassismus gegen Roma in Polizei und Justiz Nordmazedoniens. Neue Studie des ERRC

Eine neue Studie (verfügbar in englischer und in mazedonischer Sprache) des European Roma Rights Centre (ERRC) verdeutlicht das Ausmaß der systematischen Diskriminierung von Roma im Strafrechtssystem in Nordmazedonien. Die Studie basiert zum einen auf Erfahrungen des ERRC in der Begleitung von Einzelfällen in den vergangenen 25 Jahren, sowie auf aktuellen Gespräche mit Menschen aus verschiedenen Regionen des Landes, von denen einige Roma sind und einige nicht, und die in verschiedener Weise mit dem Strafrechtssystem zu tun haben oder hatten. Beispielsweise Polizist:innen, Anwält:innen, Richter:innen sowie Beschuldigte.

In der Pressemitteilung, die das ERRC anlässlich der Veröffentlichung des Berichts herausgab, wurde ein deutliches Fazit gezogen: Es geht nicht um das Fehlverhalten von Einzelpersonen. Rassismus gegen Roma ist aus Sicht des ERRC in der nordmazedonisches Gesellschaft allgegenwärtig und im Strafrechtssystem institutionell fest verwurzelt. Die Strafverfolgungsbehörden werden als institutionell rassistisch bezeichnet.

Immer wieder werden Roma besonders schnell und ohne belastbare Beweise beschuldigt, Straftaten begangen zu haben. Ganze Communities – beispielsweise in einem von Roma bewohnten Stadtteil – werden kollektiv für das (vermeintliche) Verhalten einzelner mitverantwortlich gemacht – beispielsweise durch überzogene und gewaltsame Razzien in einem ganzen Stadtteil, wenn eine in diesem Stadtteil wohnende Person beschuldigt wird.

Werden Roma einmal einer Straftat beschuldigt, so werden sie laut der Schlussfolgerung des ERRC in jeder Phase des Verfahrens regelmäßig diskriminiert. Diese Diskriminierung geht von der Polizei ebenso aus wie von den Staatsanwaltschaften und Gerichten und selbst von Anwält:innen, die eigentlich auf der Seite der Beschuldigten stehen sollten.

Anhand von Einzelfällen wird berichtet, wie beschuldigte Roma unter Androhung oder Anwendung von Gewalt und Druck gesetzt werden, Geständnisse abzulegen. Die Bedingungen in den Gefängnissen sind unmenschlich und verstoßen gegen Menschenrechte, und zwar schon unabhängig von der Frage der Diskriminierung. Internationale Organisationen wie das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) kritisieren seit Jahren die Haftbedingungen und 2022 hat das Verwaltungsgericht Bremen entschieden, dass eine Person, der im Falle einer Rückkehr nach Nordmazedonien eine Inhaftierung droht, subsidiären Schutz zu erhalten hat, da die Inhaftierung mit einer unmenschlichen Behandlung einhergehen würde.

Die Behauptungen der Bundesregierung in ihrem Bericht zur Einstufung Nordmazedoniens als „Sicheres Herkunftsland“, die Gefängnisse im Land würden EU-Mindeststandards entsprechen, sind nach Auffassung des Gerichts angesichts der detaillierten Ausführung des CPT „nicht glaubwürdig“. Der Kläger in diesem Fall war ein Rom und hatte angegeben, dass er aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit zu einer übermäßig hohen Haftstrafe verurteilt worden war. Das sah das Gericht anders – es gebe keine Belege hierfür. Auch im Gefängnis werde er nicht als Rom diskriminiert, da es ihm gelungen sei, aufgrund seiner Beherrschung der türkischen Sprachen als Angehöriger der türkischer Minderheit anstatt als Rom wahrgenommen zu werden. So begründete das Gericht die im Ergebnis positive Entscheidung damit, dass die Haftbedingungen so schlecht seien, dass sie für alle Inhaftierten eine Menschenrechtsverletzung darstellen würden. Dass es dem Betroffenen ratsam erschien, seine ethnische Zugehörigkeit zu verheimlichen, sagt aber bereits einiges aus und erscheint verständlich, wenn man bedenkt, dass 2017 und 2018 – also im Zeitraum, in dem er inhaftiert war – insgesamt vier Fälle gab, in denen Roma und ungeklärten Umständen in Haft ums Leben kamen, und in denen Vorwürfe erhoben wurden, die Betroffenen seien durch das Wachpersonal gewaltsam misshandelt worden und es sei ihnen medizinische Behandlung vorenthalten worden. In einigen der Fälle zahlte die Regierung Schmerzensgeld an die Hinterbliebenen.

Die Gefahr, in Gefängnissen zu landen, in denen solche Zustände herrschen, ist für Roma besonders hoch. Eben weil sie oft zu unrecht beschuldigt werden, weil sie unter Druck gesetzt werden, Geständnisse abzulegen, und weil sie oftmals vor Gericht keine faire Chance haben. Die ERRC-Studie zeigt, dass in über der Hälfte der Fälle (95 von 175 untersuchten Fälle) Roma, die als Angeklagte in Strafverfahren vor Gericht standen, keine anwaltliche Vertretung hatten. Weitere 50 hatten nur eine zugewiesene Pflichtverteidigung. Anwält:innen, die für die Studie interviewt worden, gaben an, dass das System der Pflichtverteidigung kein Garant für eine angemessene anwaltliche Vertretung sei, da die Pflichtverteidiger:innen so schlecht bezahlt werden, dass es sich für sie nicht lohne, viel Arbeit in solche Fälle zu investieren.

Ernsthafte Zweifel bezüglich fairer Verfahren lässt auch der Punkt aufkommen, dass in keinem einzigen der 175 Fällen aus den Gerichtsakten hervorging, dass den angeklagten Roma Dolmetscher:innen zur Verfügung gestellt worden wären. Auch wenn es in Nordmazedonien viele Roma gibt, die die mazedonische Sprache beherrschen, wäre es sehr ungewöhnlich, wenn unter so vielen Fällen es keinen einzigen geben würde, in dem der oder die Beschuldigte nicht über ausreichende mazedonische Sprachkenntnisse verfügen würde.

Hinzu kommt das Verhalten der Akteur:innen im Justizwesen. Hierzu listet der Bericht mehrere Fälle von diskriminierendem Verhalten und Äußerungen von Staatsanwält:innen und Richter:innen auf. Besonders vielsagend scheinen die Aussagen der Polizist:innen, die im Rahmen der Studie befragt wurden. Die befragten Polizist:innen, die keine Roma sind, gaben an, sie hätten niemals mitbekommen, dass Polizist:innen sich rassistisch über Roma geäußert hatten. Eine:r von ihnen äußerte die Meinung, Diskriminierung der Polizei gegen Roma sei eventuell in der Vergangenheit ein Problem gewesen, aber heute nicht mehr.

Ihre Kolleg:innen, die selbst Roma sind, berichteten etwas gänzlich anderes. Sie alle waren sich einig, dass polizeiliches Handeln von diskriminierenden Einstellungen gegen Roma geleitet wird, was bei Festnahmen und „anlasslosen Personenkontrollen“ eine Rolle spielt und sie alle gaben an, dass sie regelmäßig rassistische Beleidigungen gegen Roma aus dem Mund ihrer Kolleg:innen hören. Eine:r der befragten Polizist:innen bestätigte, dass Roma, die als Verdächtigte verhört werden, gezwungen werden, Geständnisse zu unterschreiben, selbst wenn sie den Text, den sie unterschreiben, gar nicht verstehen. Die gleiche Person betonte, dass obwohl sich viele Roma über Diskriminierung seitens der Polizei beschweren, die meisten von ihnen nichts dagegen unternehmen würden, weil sie kein Vertrauen in das System haben. Ein solches Misstrauen erscheint im Lichte der Erkenntnisse dieser Studie nachvollziehbar. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist auch, dass sich die Hälfte der Fälle, in denen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Nordmazedonien wegen Verletzungen von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Verbot der Folter und der unmenschlichen Behandlung) verurteilt hat, um Polizeigewalt gegen Roma drehten.

Dieser Bericht zeigt auf sehr überzeugende Weise wie institutioneller Rassismus gegen Roma dafür sorgt, dass Roma in Nordmazedonien in ihren Rechten verletzt werden bzw. ihre Rechte nicht wahrnehmen können. Es ist absolut verständlich, wenn Roma, die Opfer von Übergriffen oder anderen Straftaten werden, sich oft dagegen entscheiden, sich an die Polizei zu wenden, wenn sie begründete Angst haben, dass ihre Beschwerden bestenfalls nicht ernst genommen werden oder sie schlimmstenfalls selbst beschuldigt und eventuell auch misshandelt werden.

Angesichts solcher Zustände ist die Einschätzung der Bundesregierung, Nordmazedonien sei (auch für Roma) ein Sicherer Herkunftsstaat, zunehmend unhaltbar. Diese Einschätzung schafft nämlich eine Regelvermutung, dass in dem betroffenen Land ein funktionierender Rechtsstaat existiere, der Schutz vor Verfolgung böte. In der Praxis heißt dies, dass Roma aus Nordmazedonien (oder anderen Westbalkanstaaten, in denen eine ähnliche Problematik existiert), die aufgrund von Gefährdungen (seien es rassistische Übergriffe, drohende Zwangsverheiratung, häusliche Gewalt oder anderes) in Deutschland Asyl beantragen, regelmäßig darauf verwiesen werden, dass sie sich an die Polizei hätten wenden müssen. Das BAMF verweist sie auf eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit in Nordmazedonien, die nichts anderes ist als eine fiktives Konstrukt, dessen Existenz Bundestag und Bundesrat im Rahmen eines politischen Kuhhandels mehrheitlich beschlossen haben. Berichte wie dieser leisten einen wichtigen Beitrag dazu, das politische Konstrukt des „Sicheren Herkunftsstaates“ als solches zu entlarven.

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