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Porajmos in Ungarn. Teil 2: Überleben, Solidarität und Widerstand

Porajmos in Ungarn. Teil 2: Überleben, Solidarität und Widerstand

Im ersten Teil dieser zweiteiligen Artikelserie haben wir uns mit der Verfolgung der Roma in Ungarn beschäftigt. Wie überall in Europa begann sie nicht erst mit dem Zweiten Weltkrieg begann, verschärfte sich in dieser Zeit jedoch drastisch. Ungarn war seit 1942 mit Deutschland verbündet. Die Hochphase der Verfolgung begann mit der Besetzung Ungarns durch die Wehrmacht im Frühjahr 1944 und steigerte sich mit der Übernahme der Regierung durch die faschistischen Pfeilkreuzler im Oktober 1944. Zahlreiche Roma wurden deportiert, zur Zwangsarbeit verschleppt und in Konzentrationslagern ermordet. Anfang 1945 wurde der Beginn der „Endlösung der Juden- und Z-Fragen“ von den Pfeilkreuzlern verkündet.

Im zweiten Artikel sehen wir uns an, wie Roma Widerstand gegen ihre Verfolgung und Vernichtung geleistet haben. Wie zum Porajmos in Ungarn generell, gibt es auch zum Widerstand dagegen wenig Quellenmaterial. Die Gründe dafür können im ersten Teil nachgelesen werden. Zum aktiven, bewaffneten Widerstand ungarischer Roma fehlt es an Quellenmaterial. Wir befassen uns daher vor allem mit den Themen Flucht, Solidarität und Überlebensstrategien als Formen des Widerstands.

Flucht vor oder während der Deportation und aus den Lagern gehörte zu den wichtigsten Methoden des Widerstands. Sie wurde hart bestraft und endete oft tödlich. So berichtet József Kazári, der als junger Mensch das ungarischen Konzentrationslager Komárom überlebt hat:

Einige konnten vor ihnen fliehen oder weglaufen – diese blieben am Leben. Aber diejenigen, die nicht schlau genug waren oder ihnen nicht entkommen konnten – die überlebten nicht. Sie starben oder wurden erschossen, denn wenn sie jemanden bemerkten, der weglief, kamen die Deutschen und erschossen ihn auf der Stelle, mit einer Pistole.

Auch Gyula Balogh erlebte, wie grausam Mitgefangene, die zu fliehen versucht hatten, bestraft wurden. Dennoch hat er selbst die Flucht gewagt. Zusammen mit seinem Onkel Matei floh er aus der Munitionsfabrik, in der die beiden Zwangsarbeit leisten mussten. Sie sprangen über den Zaun und liefen barfuß durch den Schnee. Die Deutschen verfolgten sie mit ihren Hunden, konnten sie aber nicht fangen. Den ganzen Winter über liefen sie durch die Wälder. Als sie nicht weit von der tschechischen Grenze waren, wurde Matei erschossen und Gyula gefangen genommen. Er schaffte es erst im Juli 1945 nach Hause. Auf seine weiteren Erlebnisse kommen wir noch zurück. Gyula Balogh war in mehreren Konzentrationslagern interniert und war der einzige der Verschleppten aus seiner Familie, der überlebt hat. Seine Mutter und drei ihrer Brüder wurden getötet.

Frau Jenő Sárközi wurde als junge Frau nach Dachau deportiert. Ihr gelang es zunächst, mit vier weiteren Frauen zu fliehen:

Einmal konnte ich flüchten, aber sie haben mich zurückgeholt, weil ich mich verlaufen habe. Es war alles deutsches Gebiet, ich hatte keine Ahnung, wo ich war… Sie haben uns zurück gebracht. Da war diese Polizistin – sie hat uns roh geschlagen. Sie hatte diese lange Weidenrute…

Manche Roma hatten jedoch auch Glück. Ein Zugführer aus Komárom berichtet von einer erfolreichen Flucht: „Ein ganzer Z*-Zug hatte Komárom Richtung Westen … verlassen. Er wurden von Gendarmen begleitet. Wir hielten am Wald von Ács an. Zu diesem Zeitpunkt hatten es die Z* … geschafft, den Riegel aus der Tür zu ziehen und sie zu öffnen. Ein ganzer Wagen Z* flüchtete. [Die Gendarmen] schossen auf sie, aber es war dunkel und sie konnten sie nicht fangen.“

1941 trat Ungarn an deutscher Seite in den Zweiten Weltkrieg ein und beteiligte sich am Krieg gegen Jugoslawien und die Sowjetunion. Auch Roma-Männer wurden zu diesem Zeitpunkt zur ungarischen Armee rekrutiert, um sie an der Front zu verheizen. Gleichzeitig wurden bereits Roma deportiert und interniert. Teilweise waren es die Angehörigen von Soldaten, die verschleppt wurden, während sie Kriegsdienst leisten mussten. Einer, der sich der Rekrutierung verweigerte, war József Kakuczi. Er hatte bereits zuvor in der Armee gedient und war schwer krank geworden. 1940 nahm er wieder an einer militärischen Übung teil. 1942 erhielt er einen weiteren Einberufungsbefehl, auf den er nicht reagierte, da er von den Deportationen von Roma wusste: „Ich konnte also kein Patriot sein, sondern nur ein Militärflüchtling. Ich war bis 1943 auf der Flucht.“

Während seiner Zeit auf der Flucht wurde er von zwei Romnja unterstützt, Rozália Sárközi and Zsófia Horváth, die ihn aufnahmen und sich um ihn kümmerten. Schließlich wurde er dennoch gefangengenommen. Ihm gelang zunächst die Flucht, als die Rote Armee sich näherte, wurde dann jedoch von Pfeilkreuzlern gefangengenommen und sollte nach Komárom deportiert werden. Ihm gelang es wieder zu fliehen und wurde in Esztergom wieder gefangengenommen. „…und dort erwischte uns die Glorreiche Rote Armee. Es könnte der Beginn des vierten Monats im Jahr 1945 gewesen sein. Die glorreiche Armee befreite alle.“

Andere zu schützen oder zu retten, ist ein Akt des Widerstands gegen jene, die dieses Leben vernichten wollen. Als die Deutschen einmal im Lager Komárom Männer selektieren, um sie in deutsche Lager zu verschleppen, bat der junge Jószef Kazári ein inhaftiertes Mädchen, sie solle ihren Rock über ihn breiten und sich auf ihn setzen, damit die Deutschen ihn nicht entdecken würden:

So saß dann dieses Roma-Mädchen in ihrem großen weiten Rock auf mir, und sie konnten mich nicht sehen. Sie gingen an mir vorbei. Ich legte meine Hände zusammen, um dem lieben Herrn zu danken. Sie sammelten sie ein, sie reihten sie auf und haben sie alle nach Deutschland gebracht. Manche konnten zurückkehren, andere konnten nicht zurückkommen. Ich sage dir, wenn dieses Mädchen nicht gewesen wäre, wäre ich auch gestorben. Ich bin von dem Mädchen gerettet worden, als sie auf mir saß… Ibolya Nyári war ihr Name.

In Komárom wurden nur Mütter mit Kindern von der Selektion ausgenommen. Dass das keineswegs das Überleben bedeutete, haben wir im ersten Teil gesehen. „Arbeitsfähige“ Menschen wurden in die deutschen Konzentrationslager verschleppt, darunter auch junge Frauen ohne Kinder. Frau Imre Dömötörné, geborenen Ilona Lendvai, berichtet, wie ihre Mutter zwei dieser Frauen gerettet hat:

Meine Mutter hat zwei Verwandte, zwei Mädchen, gerettet, als sie meine Kleine Schwester in die Hände der einen gab und meine andere Schwester in die Hände der anderen – [als seien] es ihre Kinder. Niemand hat das geprüft, und sie waren gerettet.

Für Anna Lujza Szász ist auch die Solidarität zwischen Romnja in den Lagern ein Akt des Widerstands. Sie hat Überlebende interviewt, die nach Komárom oder Auschwitz (oder beide Lager) deportiert worden waren. Die Holocaust-Überlebende Marika erzählt über eine Frau im Lager, die sich umbringen wollte:

Sie hatte das Gefühl, nicht mehr leben zu können. Sie wollte sich in den Draht werfen, aber andere Frauen hielten sie zurück.

Während die deportierten Frauen und Mädchen Zwangsarbeit leisteten, blieben die kleinen Kinder im Lager ohne Obhut zurück. Die Mütter übten daher mit den älteren dieser Kinder, die selbst erst zwischen fünf und sieben Jahre alt waren, wie sie auf die noch kleineren Kinder in der Zeit ihrer Abwesenheit aufpassen mussten, damit ihnen nichts zustieß.

Eine weitere Strategie des Überlebens war das Erzählen. Frauen versuchten, Kinder das Leid vergessen zu lassen, indem sie ihnen von besseren Zeiten erzählten, was nur schwer möglich war. So erinnert sich Bora, die als Kleinkind sowohl Komárom als auch Auschwitz überlebt hat:

Nach der Arbeit hat meine Mutter mir Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt, als sie Pferde hatten und mit ihnen spielten und unter den Sternen schliefen. Aber einmal, erinnere ich mich, schlief ich nicht ein, und hörte sie weinen, als sie über ihr Leid sprachen und ihre Angst, nicht zu überleben.

Hunger, Kälte, Schmutz und Krankheit waren, neben der Gewalt und Zwangsarbeit, permanente Begleiter in den Lagern. Besonders viele Kinder starben unter diesen Bedingungen. An Lebensmittel, und seien es nur die geringsten Mengen, zu kommen, war überlebenswichtig. So erinnert sich Bora an ihre Mutter, die in der Küche des Z-Familienlagers in Auschwitz-Birkenau arbeitete:

Wir hatten Hunger. Dann ging meine Mutter zur Arbeit. Sie stahl eine extra Scheibe Brot aus der Küche und steckte sie in ihre Schürze. Sie gab sie mir oder ich begleitete sie. Es war sehr gefährlich.

Menschen, die dabei erwischt wurden, wie sie Lebensmittel „stahlen“, erging es schlecht. Frau Imre Dömötörné, geborenen Ilona Lendvai, war sechs Jahre alt, als ihre Familie nach Komárom verschleppt wurde. Über das Essenstehlen in Komárom erzählt sie:

Die Frauen gingen in die Küche, um beim Schälen von Kartoffeln, Gemüse, Möhren zu helfen, damit sie für uns etwas zu essen stehlen konnten. Aber diejenigen, die beim Klauen erwischt wurden, wurden auf der Stelle zu Tode geprügelt. Meine Tante, Gott hab sie selig, hat es sogar einmal geschafft, etwas Schmalz zu bekommen und sie haben für uns im Hof Suppe gekocht, angedickt mit Fett und Mehl. Was für ein Fest das war.

Häufig mussten die Kinder die Aufgabe übernehmen, Essen zu besorgen, da die Mütter andere Verpflichtungen hatten. Marika, die auch als kleines Kind überlebt hat, erzählt wie sie sich ohne ein Gefühl von Angst an deutsche Soldaten gewandt hat:

Sie haben uns einen Platz in ihren Autos angeboten und wir sind zusammen zur Müllkippe gefahren. Und wir haben von dort gegessen. Wir haben diese großen Stücke Brot genommen… Es war egal, ob sie schimmelig waren oder nicht. Wir haben sie in Wasser getaucht und gegessen.

Obwohl es in Ungarn einen grassierenden Rassismus gegen Roma gab, so kam es doch auch zu solidarischen Handlungen durch die Mehrheitsbevölkerung mit den Verfolgten. In manchen Orten haben die Amtspersonen Befehle, die mit der Verfolgung zusammenhingen, „nicht verstanden“ oder „falsch verstanden“, wie Bársony es formuliert, um so Zeit zu gewinnen. Das hat wohl einigen Roma das Leben gerettet. Aus welchem Grund sie das gemacht haben, bleibt unklar. War es Menschlichkeit, Renitenz oder waren ihre Gemeinden auf Roma als billige Arbeitskräfte angewiesen? Man weiß es nicht und wird es nicht mehr erfahren.

Einige Menschen aus der ungarischen Mehrheitsbevölkerung versuchten jedoch eindeutig, Roma zu schützen. Als die Roma in Tüskevár deportiert wurden, hat ein Feldarbeiter dagegen protestiert. Er wurde mit den Roma deportiert und wurde in Dachau ermordet. Mehr Glück hatte der Bischof von Győr, der die Deportation der dortigen Roma-Musiker:innen verhindern konnte.

Auch in den Ghettos hungerten die eingesperrten Menschen. Die Überlebende Mária Algács erzählt, dass ungarische Frauen ihnen regelmäßig Essen gebracht hätten, ohne das sie wahrscheinlich nicht überlebt hätten. Sie betont das mehrfach. Bei dem allgegenwärtigen Hunger reichte jedoch auch das Essen, das die Frauen brachten, nicht für alle. Die Romnja gaben das Essen dann den kleinen Kindern und die größeren und die Erwachsenen bekamen nichts. Dennoch sagt Mária, ohne „diese guten Frauen“ seien sie verhungert.

Wie auch in anderen Ländern, wurden in Ungarn zunächst die Juden verfolgt und dann die Roma. Roma-Communities versteckten Juden vor der Verfolgung, um nur wenige Monate später gemeinsam mit ihnen deportiert zu werden. Eine besonders rührende Geschichte erzählt Gyula Balogh, der im Sommer 1945 zurück nach Hause kam. Ihn begleitete ein jüdischer Mann. Als die Verfolgung der Juden anfing, brachte dieser Mann seinen zweijährigen Sohn zu Pferdehändlern, die er kannte. Diese Roma nahmen den Jungen bei sich auf. Nach einer Weile wurden dann auch die Roma verfolgt, und sie mussten sich verstecken. Balogh:

Als wir nach Hause kamen, ging der Vater nach ihm suchen. Nur er war am Leben geblieben, der jüdische Mann – seine Frau und seine Mutter starben auch. Er fand die Roma-Pferdehändler, und stell dir vor, das kleine jüdische Kind konnte nicht mit ihm sprechen, weil es nur Romanes sprach. Also sprach er mit seinem Vater in Vlach-Romanes, und dieser küsste ihn nur und weinte. So war das damals…

***

Ebenso wie die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Porajmos in Ungarn, begann auch das Gedenken an die Opfer sehr spät. Das Gedenken basiert wesentlich auf der Arbeit der Roma-Bürgerrechtler:innen, unter denen besonders Ágnes Daróczi hervorzuheben ist. Sie hat nicht nur (mit ihrem MannJános Barsony) Tausende Interviews mit Überlebenden, Angehörigen und anderen Zeitzeug:innen geführt, sondern sie spielte auch eine wichtige Rolle für die Errichtung eines Mahnmals für die Opfer des Porajmos in Budapest im Jahr 2006.

Literatur:

János Barsony und Ágnes Daróczi (Hg.): Pharrajimos. The Fate of the Roma During the Holocaust, Budapest 2008.

Evelin Verhás, Angéla Kóczé and Anna Lujza Szász (Hg.): Roma Resistance during the Holocaust and in its Aftermath. Collection of Working Papers, Budapest 2018.

Jekatyerina Dunajeva: Roma Holocaust in Hungary: Importance and Implications of Roma Resistance; in: Anna Mirga-Kruszelnicka and Jekatyerina Dunajeva (Hg.): Re-thinking Roma Resistance throughout History: Recounting Stories of Strength and Bravery, Budapest 2020, S. 98-119.

Anna Lujza Szász: Is Survival Resistance? Experiences of Roma Women under the Holocaust, Saarbrücken 2012.

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