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Porajmos und Widerstand. Die Vernichtung der sowjetischen Roma. Teil 3

Am 22. Juni 1941 überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. In den knapp vier Jahren Krieg verlor die Sowjetunion schätzungsweise 30 Millionen ihrer Bürger_innen – die meisten von ihnen Zivilist_innen. Mit der Besatzung begann auch die Vernichtung der Juden und Roma. Welches Ausmaß der Porajmos – der Genozid an den Roma Europas im Zweiten Weltkrieg – in der besetzten Sowjetunion annahm, ist wenig erforscht.

Ein großes Problem ist, dass ein Großteil der Forschung ausschließlich auf Material aus deutschen Archiven stammt. Die sowjetische Geschichtsschreibung zu dem Thema war begrenzt, in den postsowjetischen Staaten ist aber hierzu gearbeitet worden. Laut dem Historiker Martin Holler sind die Dokumente aus der Sowjetunion die wichtigsten, um die Verfolgung sowjetischer Roma zu verstehen, sind aber von westlichen Historiker_innen größtenteils ignoriert worden. Dabei sind die Archive voller Material – neben Dokumenten von Verwaltung, Politik und Armee auch Berichte von Partisan_innen, Augenzeug_innen und Überlebenden.

Ein Problem der sowjetischen Dokumenten ist allerdings, dass die ethnische Zugehörigkeit von Opfern nicht genannt wird, Opfer also pauschal als „sowjetische Zivilisten“ genannt werden.

Hollers Artikel beschäftigt sich vor allem mit den sowjetischen Gebieten, die unter deutscher Militärverwaltung standen. Daher erwähnt er auch nur in einer Fußnote, dass in Leningrad, das nicht besetzt war, viele Roma verhungertem, als die Wehrmacht die Stadt belagerte (durch die Leningrader Blockade durch die Wehrmacht sind wahrscheinlich mehr als eine Million sowjetische Zivilist_innen verhungert).

Offiziell gab es die Unterscheidung zwischen den sesshaften und den nicht-sesshaften Roma. Die nicht-esshaften waren dem Sicherheitsdienst zu übergeben, um sie zu erschießen. Andere Roma wurden zur Zwangsarbeit deportiert. 1942 wurden zwangsarbeitende Roma-Familien in der Region Gdov zusammengetrieben und mussten vor dem versammelten Dorf tanzen. Sie wurden alle erschossen und die Bauern mussten ihre Leichen begraben. Ein ca. 10jähriger Junge soll dabei lebendig begraben worden sein. Offiziell galt dies als Maßnahme gegen Aktivitäten von Partisan_innen, jedoch glaubten die russischen Zeug_innen dies nicht. Sie sagten, es habe sich um „gänzlich unschuldige und wehrlose Roma“ gehandelt, die nicht einmal verhört worden seien. Der Mord an diesen Menschen war das erste in einer Reihe von Massakern, die in dieser Region durchgeführt wurden.

Eine Massenerschießung, die vom Militär bei Novoržev durchgeführt wurde, fand im Mai 1942 statt. Sie wurde damit gerechtfertigt, dass nicht-sesshafte Roma generell verdächtig seien, Partisanen oder Spione zu sein, ein auch in anderen Fällen beliebte Aussage, um die wirkliche Absicht zu verschleiern. Die Außerordentliche Staatliche Kommission, die 1944 die Verbrechen der Deutschen untersuchte, stellte im Fall von Novoržev fest, dass es sich um die Überreste von mehr als 330 Roma, vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen, gehandelt hat, die Spuren schwerer Folter aufwiesen. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass die Art und Weise, mit der die Folter, die Gewalt und die Ermordung durchgeführt würde, einen systematisch methodologischen Charakter mit dem Ziel hatte, ein ganzes Volk – die Roma – auszurotten. Gleiches ist auch für andere Orte, die der Heeresgruppe Nord unterstanden, festzustellen.

Faktisch haben Militäreinheiten die ganze Gegend von Roma „gesäubert“. Über Ostrov (bei Pskov) schreibt Holler, dass die Roma in der Nacht nach den Juden verhaftet wurden. Sowohl die Juden als auch die Roma mussten bis dahin zwei Jahre lang Zwangsarbeit leisten. Nun wurden sie erschossen und ihr Eigentum verkauft.

Die Heeresgruppe Mitte kontrollierte die Region des östlichen Weißrussland, Smolensk, Orel, Kursk u.a. Bis Ende März 1943 hatte die dort stationierte Einsatzgruppe B 142.359 Menschen ermordet, darunter eine große Anzahl Roma. In der Region um Smolensk lebten relativ viele Roma, die schon lange Zeit dort als Bauern lebten und nun in Kolchosen (landwirtschaftliche Betriebe in der Sowjetunion) arbeiteten. In der Kolchose „Stalins Konstitution“, in der sowohl Roma als auch andere Menschen arbeiteten, führten deutsche Offiziere zunächst eine Selektion anhand der Namen durch. Als Roma eingeordnete Männer mussten zwei Gruben ausheben. Anschließend wurden die Menschen unter schweren Misshandlungen an die Gruben gebracht. Manche flehten und sagten, sie seien Russen. Die Deutschen führten eine „rassische Untersuchung“ durch, um „festzustellen“, wer Roma sei. Diejenigen, die sie als Russisch einstuften, konnten gehen. So haben manche Mitglieder einer Familie das folgende Massaker überlebt, andere nicht. Zuerst wurden die Kinder ermordet, dann die Frauen. Die Männer mussten die erste Grube zuschaufeln und wurden dann an der zweiten erschossen. Die Deutschen nahmen die Wertsachen ihrer Opfer mit. Die Sicherheitspolizei führte weitere Massenmorde an Roma in der Region Smolensk durch. Die meisten wurden erschossen, jedoch kamen auch andere Mordmethoden, wie etwa Gaswagen, zum Einsatz. In der Nähe von Briansk hat die Außerordentliche Staatliche Kommission 7000 Leichen aus 14 Massengräbern exhumieren lassen. Es handelte sich um die sterblichen Überresten von Kindern, Frauen und alten Männern der jüdischen und Roma-Community. Die Identität der Ermordeten konnte nicht mehr festgestellt werden, da sie aus anderen Gebieten dorthin gebracht worden waren und es keine Überlebenden gab.

Die Heeresgruppe Süd kontrollierte das Gebiet der Ukraine und der Krim. Im Januar 1942 wurden mehr als 3000 Juden aus Artemovsk ermordet. Als die Außerordentliche Staatliche Kommission später den Massenmord untersuchte, stellte sie fest, dass unter ihnen auch Roma waren. Jedoch konnten nur 15 von ihnen identifiziert werden. Die Verfolgung hatte sich nach diesem Massenmord in der Region ausgebreitet. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass die ganze Roma-Community ermordet worden war. In deutschen Quellen werden die ermordeten Roma von Artemovsk nicht erwähnt.

Wie viele Roma in Černigov ermordet worden sind, kann nicht bestimmt werden. Einem Augenzeuge zufolge sind drei Tage lang Lastwagen hin- und hergefahren. In diesen LKW wurden die Roma zu einem nahe gelegenen Wald transportiert, wo sie erschossen wurden. In Korovograd sind laut Außerordentlicher Staatlicher Kommission mehr als 1000 Roma „erschossen und zu Tode gequält“ worden. Die Verfolgung in der Gegend ging anschließend weiter.

Auch auf der Krim wurde kein Unterschied zwischen sesshaften und nicht-sesshaften Roma gemacht. Dort hatten Roma seit Jahrhunderten in Städten, weitgehend assimiliert gelebt. Entsprechend schwierig fanden es die Deutschen, Roma zu identifizieren. In Simferopol hatten die Roma eine eigenen Stadtteil, und ihre Ermordung begann innerhalb weniger Tage nach der Besetzung. 800 Roma wurden ermordet. Ähnliche Mordaktionen fanden in anderen Städten der Krim statt. Auch vereinzelt wurden Menschen aufgegriffen und ermordet, einzig und allein, weil sie Roma waren.

Ein Überlebender des Massakers in Evpatorija sagte aus, dass die deutschen Behörden die Roma dazu aufriefen, sich für Brotrationen zu registrieren. Die Roma hätten jedoch verstanden, dass dies eine Falle sei und begonnen, sich zu verstecken. Die Deutschen begannen, Jagd auf sie zu machen und verhafteten mehr als Tausend Personen, um sie zu erschießen.

Auch im Nordkaukasus wurden Roma systematisch verfolgt. So wurden alle Bewohner_innen einer Kolchose in Rostov am Don ermordet, in anderen Städten folgten die Sonderkommandos den Fronteinheiten und ermordeten in Blitzangriffen alle Roma und Juden. Auch in der Gegend von Krasnodar wurden Roma verfolgt und ermordet. In der Stadt selber hatten die Gestapo, wie der Rotarmist und Rom Nikolaj Lutsenko sagte, 58 Roma-Familien zur Ermordung registriert. Bestätigt wird die Aussage von einer Überlebenden, die zusammen mit ihrer Familie von einer Russin versteckt worden war und später erfahren hat, dass sie auf der Liste stand. Wie viele Roma in der Stadt verhaftet und ermordet wurden, bleibt unbekannt.

Das Gebiet um Stavropol (damals Vorošilovsk) war ein Zentrum der Roma-Kolchos-Bewegung. Die Kolchosen sollen komplett zerstört worden sein, ebenso wie die Roma-Kolchosen in Smolensk, dem bedeutendsten Zentrum der Roma-Kolchosen.

Martin Holler kommt zu dem Schluss, dass es seit 1942 einen systematischen Genozid an Roma in allen militärisch besetzten Gebieten der Sowjetunion gab (in manchen Gebieten begann sie auch schon 1941). Das Ziel war die totale Vernichtung der Roma. Ein Problem für die Verfolger war, dass sie Roma nicht immer identifizieren konnten, wenn sie nicht ins Stereotyp passten oder weil sie ihre Identität auch schon davor verbergen mussten. So waren viele als Russen, Ukrainer oder Weißrussen registriert.

Die Unterscheidung zwischen sesshaften und nicht-sesshaften Roma existierte nur auf dem Papier und machte schlussendlich keinen Unterschied. Theoretisch sollten „nur“ die nicht-sesshaften Roma ausgerottet werden. Faktisch wurden aber alle Roma systematisch verfolgt. Ebenso wie die Verfolgung der sowjetischen Juden, basierte die Verfolgung der sowjetischen Roma auf der rassistischen Nazi-Ideologie, die zum Ziel hatte, beide „Rassen“ zu vernichten. Nach dem Krieg wurde der Genozid an den Roma auch in der Sowjetunion verheimlicht und ist daher nicht Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden. Bis heute ist der Völkermord an den Roma daher auch in den post-sowjetischen Staaten kaum bekannt.

Quelle: Martin Holler, “Like Jews?” The Nazi Persecution and Extermination of Soviet Roma Under the German Military Administration: A New Interpretation, Based on Soviet Sources.

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