Home » Artikel » Izabela Tiberiade: Zeitzeug:innen-Interviews mit überlebenden Roma des Rostocker Pogroms von 1992

Izabela Tiberiade: Zeitzeug:innen-Interviews mit überlebenden Roma des Rostocker Pogroms von 1992

Am 24.08.2022 fand im Peter-Weiss-Haus die sehr gut besuchte Veranstaltung des Roma Centers und des Dokumentationszentrums „Lichtenhagen im Gedächtnis“ statt. Es sollte das erste Mal sein, dass ein Zeitzeuge aus der Roma-Community, der den Pogrom in Rostock-Lichtenhagen 1992 überlebt hat, öffentlich auftritt. Im Rahmen der Gedenkveranstaltungen zum 30. Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen fand ein live Interview mit Izabela Tiberiade statt, die überlebende Zeitzeug:innen interviewt hat.

Sie ist die Tochter von Romeo Tiberiade, einem aus Rumänien stammenden Rom, welcher mit seiner Familie 1992 nach Deutschland flüchtete und im Sonnenblumenhaus untergebracht war, als dieses von Nazis angegriffen wurde.

Leider war Herr Tiberiade krankheitsbedingt selber nicht zugegen, doch seine Tochter, die Absolventin der Rechtswissenschaften der Universität Malmö ist, hat seine Erzählungen in Videoausschnitten gezeigt und besprochen, ebenso wie die weiterer Roma-Zeitzeug:innen.

Bei dem Rostocker Sonnenblumenhaus handelt es sich um ein ehemaliges Ankunftszentrum für Asylsuchende. Über die damaligen Vorfälle wurde innerhalb der Roma-Community lange geschwiegen, aus dem Wunsch heraus, sich zu schützen, wie Izabela Tiberiade erläutert. Heute ist das Narrativ ihrer Eltern und anderer Betroffener, dass die Asylsuchenden von damals heldenhafte Überlebende der mörderischen Neonazi-Angriffe sind.

Izabela Tiberiade stammt aus einer traditionellen Roma-Community aus Rumänien. Ihre eigenen Eltern blieben nach den Übergriffen von Lichtenhagen in Deutschland, doch die meisten anderen betroffenen Familien kehrten nach Rumänien zurück. Viele von ihnen sehen es heute als einen Teil ihrer Verantwortung, politisch aktiv zu sein, um eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Trotzdem war es schwierig, Interviewpartner:innen zu finden, sagt Tiberiade, da viele von ihnen immer noch verängstigt sind und sich vor weiterer Verfolgung fürchten. Trotzdem ist es ihr gelungen, einen wichtigen und interessanten Beitrag zu leisten, der auch die Medien auf das Thema aufmerksam gemacht hat – nach den ersten Interviews kam die Presse mit Fragen auf sie zu.

Die Gründe für die Flucht aus Rumänien waren für viele Roma-Familien ähnlich. „Wir wollten dass unsere Kinder sicher aufwachsen können“, sagt Daniel Dumitru. Dies bestätigt auch seine Frau Leonora „Shukarina“ Dumitru. Außerdem hätte man von den üblichen rumänischen Gehältern kaum leben können, schon gar nicht mit 5 Kindern. Von den politischen und sozio-ökonomischen Umwälzungen, sowie dem dadurch verstärkten Rassismus, waren damals besonders die Roma-Communities betroffen.

  • Izabela Tiberiade. Interviews mit überlebenden Roma des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen 1992.

Allerdings haben sie sich aufgrund der Brandstiftung im Rostocker Ankunftszentrum in keinem der beiden Länder willkommen gefühlt. „Deutschland erschien uns dadurch misstrauisch und verschlossen“, so Daniel. Dabei war die Flucht langwierig und gefährlich gewesen, denn auch auf der Fluchtroute wurden sie von Beamten bedroht und hätten es fast gar nicht erst nach Deutschland geschafft. Die Erfahrung mit den Nazi-Übergriffen machten sie quasi direkt nach ihrer Ankunft in Deutschland, denn knapp einen Tag nach ihrer Registrierung in Lichtenhagen fanden die mehrtägigen Anschläge auf das Sonnenblumenhaus statt. Auf Izabelas Frage hin, ob er auch positive Erinnerungen habe, antwortet er: „Nein, im Vordergrund stehen die Brutalität der Angreifer und die Arroganz unter dem Personal und der Polizei.“

Besonders verstörend ist der Umstand, dass die Neonazis damals die Türen und Ausgänge des Hauses verriegelten, um die Menschen im Feuer einzuschließen. Die Polizei schien Daniel aus Überforderung untätig geblieben zu sein. So musste er seine Familie auf eigene Faust in Sicherheit bringen. Später kamen Roma, die bereits in Deutschland lebten, mit ihren Privatautos um die Überlebenden abzuholen und an sichere Orte zu bringen, und auch die Polizei konnte später mehr ausrichten, aber in dem Moment waren alle auf sich gestellt. Es folgten auch weitere Anschläge auf andere Asylheime.

Daniel berichtet, die Situation nach der Rückkehr nach Rumänien wäre für seine Familie schlechter gewesen als vor dem Aufbruch, denn die Fabrik, in der er angestellt gewesen war, gab es nicht mehr und er fand lange keine ausreichend bezahlte Arbeit. Außerdem wussten die Familien nicht, ob sie überhaupt dauerhaft in Rumänien bleiben können würden – die Situation in Rumänien hatte sich keinen Deut gebessert.

Hinzu kam ein Trauma, welches Izabela Tiberiade zufolge von den meisen Betroffenen bis heute nicht richtig aufgearbeitet werden konnte. „Es gab damals für die Familien keinerlei psychologische Unterstützung, weder in Deutschland, noch in Rumänien, und viele der Überlebenden konnten das Erlebte gar nicht richtig verarbeiten – auch weil es so lange totgeschwiegen wurde. Viele verstanden auch nicht, dass es sich bei den Angriffen um organisiertes Verbrechen handelte, und nicht einfach um hitzige Impulshandlungen einiger weniger Jugendlicher.“

Auf die Frage, inwiefern die Erlebnisse in Rostock ihn als Menschen verändert haben, antwortet Daniel, dass er sich danach nicht mehr vorstellen konnte, sein Land nochmal zu verlassen, egal wie schwierig es in Rumänien war. „Ein weiterer schwieriger Punkt ist, dass den Roma aufgrund der vielfältigen Diskriminierung kein Zugang zu ihrer eigenen Geschichte ermöglicht wird“, sagt Izabela. „In der Folge der Anschläge haben sich die paar Roma-Familien, die in Deutschland geblieben sind, außerdem tendenziell selbst von allen Roma-Communities isoliert, in der Hoffnung, sich so besser in die deutsche Gesellschaft integrieren zu können.“

Für Daniels Frau Leonora, die im Interview sichtlich zurückhaltend ist, stand der Schutz der Kinder im Vordergrund – sowohl bei der Flucht aus Rumänien, als auch bei der aus dem Sonnenblumenhaus. Ihre Antworten im Interview kreisen um den Punkt des völligen Unverständnisses gegenüber dem Hass und der Brutalität der neonazistischen Angreifer: „Ich verstehe bis heute nicht, wie Menschen so etwas tun können und kann meinen Aufruf, Menschen in Not stattdessen zu helfen, nur immer wiederholen.“

„Es war kurz nach dem Sturz der kommunistisch geprägten Diktatur“, erklärt Romeo Tiberiade, „und die politischen Veränderungen brachten viele Unruhen mit sich. Wir sind zuerst nach Tschechien und dann in die Slowakei geflohen, aber wir wurden aus beiden Ländern wieder vertrieben.“ Er reiste mit seinen Eltern, seiner Frau und seinen beiden Kindern nach Deutschland in der Annahme, dass die Menschenrechte dort gewahrt würden, „aber wir trafen auf keine Gastfreundlichkeit.“ Er erinnert sich, dass es im Rostocker Ankunftszentrum schmutzig war und es keinen Hausmeister gab. Das Personal war sehr streng mit den Geflüchteten und er blieb mit seiner Familie die meiste Zeit auf dem Zimmer. „Wir wurden mit vielen Vorurteilen konfrontiert und ich kann mich erinnern, dass viele der Angreifer noch Jugendliche waren“. Romeo zufolge entkam seine Familie nur, weil das Feuer sich auf ihrem Flur langsamer ausbreitete. „Viele Familien wurden auf dem Weg nach draußen durch das Feuer getrennt, das war beängstigend. Als wir draußen waren, wurden wir weiter mit Steinen und Brandflaschen beworfen. Einem Teil der Polizei war es offenbar egal, denn sie taten nichts. Und dann kamen auch noch die Journalisten und machten Fotos von uns. Sie haben meine Frau und unsere Kinder mit nackten Füßen fotografiert, weil wir nur mit dem gelohen sind, was wir am Leib hatten.“

Romeo Tiberiade berichtet, sie hätten Angst gehabt, zurück nach Rumänien zu gehen, aber genau so groß war die Angst, in Deutschland zu bleiben. Doch sie blieben und haben in der Folge auch andere Menschen kennengelernt – trotz erneuter Brandanschläge auf andere Unterkünfte.
„Heute weiß ich, dass es in Deutschland auch gute Menschen gibt, die keinen Hass auf Juden und Roma haben. Sie waren freundlich zu uns und haben uns unterstützt, als unsere Kinder eingeschult wurden und ich eine Arbeit gesucht habe, damit wir uns in der deutschen Gesellschaft integrieren konnten. Ich bin froh, dass meine Kinder eine gute Ausbildung bekommen haben. Außerdem konnte ich aus den Vorfällen etwas lernen und ich denke, das gilt für beide Seiten. Selbst die Geschichte Rumäniens kann ich seitdem besser verstehen.“

Der Stadt Rostock haftet aufgrund der Lichtenhagener Übergriffe bis heute ein negatives Image an. „Früher bestand an der Sache von außen kein Interesse“, so Izabela Tiberiade. „Um diesen Aufarbeitungsprozess zu unterstützen, ist mir Bildungsarbeit so wichtig. Nur mit ihr können alle, auch Geflüchtete und Migrant:innen, in Würde leben und müssen sich nicht mehr Verfolgung und Diskriminierung aussetzen, auf der Suche nach einer besseren Zukunft für sich und die folgenden Generationen.“

Aus dem Publikum meldeten sich anschließend mehrere Antifaschist:innen zu Wort, die sich auch dafür entschuldigten, dass sie den Betroffenen damals nicht helfen konnten. Es wurden Schamgefühle ausgedrückt hinsichtlich der Behandlung der Bewohner:innen und des Umstandes, dass die Aufarbeitung erst 30 Jahre nach dem Pogrom stattfindet. Izabela Tiberiade leistet mit ihren Zeitzeug:innen-Interviews einen wichtigen Beitrag zu dieser Aufarbeitung.

BulgarianCroatianEnglishFrenchGermanItalianPortugueseRussianSerbianSpanishTurkish