Home » Artikel » Raymond Gurême. Ein Leben im Widerstand

Raymond Gurême. Ein Leben im Widerstand

Raymond Gurême. Ein Leben im Widerstand

Raymond Gurême ist am 24. Mai im Alter von 95 Jahren von uns gegangen. Er war einer der letzten Überlebenden des Porajmos, Widerstandskämpfer und hat sein Leben lang für soziale Gerechtigkeit gekämpft. Bis zuletzt war er Ehrenpräsident der Pariser Roma-Organisation La Voix des Rroms (Die Stimme der Roma).

Raymond wurde 1925 als drittes von neun Kindern in eine Manouche*-Familie geboren. Die Familie lebte seit Generationen als Schausteller und durchquerte ganz Frankreich, aber auch Belgien und die Schweiz, mit ihrem Wanderkino und kleinem Zirkus, in dem Raymond als Clown und Akrobat auftrat. Alle freuten sich, wenn sie kamen. „Damals brachten wir die Zivilisation in die kleinen Städte und Dörfer“, erinnert er sich in seiner Biografie „Interdit aux nomades“ (Für Nomaden verboten).

Bereits seit 1912 gab es in Frankreich gesetzliche Beschränkungen für Fahrende Menschen. Doch mit dem Überfall der Wehrmacht auf Westeuropa wurde das Fahren verboten. Im Oktober 1940 ordnete die deutsche Besatzungsmacht die Internierung der Roma in Lager an, die der französischen Polizei und Gendarmerie unterstanden. Am 4. Oktober 1940 holten französischen Polizisten Raymonds Familie ab und brachte sie in das Lager Darnétal in der Nähe von Rouen. Im November muss die Familie zunächst auf Viehwagen, dann zu Fuß ins Lager Linas-Montlhéry. Das „Nomadenlager“ in der Nähe von Paris war auf dem Gelände einer Rennstrecke errichtet worden. Raymond erinnert sich: „Am schlimmsten war es, die kleinen Kinder sterben zu sehen und die alten Menschen. Man musste barfuß aus den Barracken gehen, in den Schnee. Man wurde nicht mit Sachen, Kleidung oder Schuhen versorgt. Es gab keine Hygiene, keine Ärzte, wir hatten nichts.”

Aus dem Lager entkommt er zweimal. Beim ersten Mal, im Juli 1941, wird er vom Bürgermeister seiner Heimatstadt denunziert, den er um Hilfe bat. Nach der zweiten Flucht drei Monate später, entkommt er in die Bretagne, wo er Arbeit als Landarbeiter findet und mehrmals nach Linas-Montlhéry zurück kehrt, um seine Familie mit Lebensmitteln zu versorgen. Das Lager wird 1942 aufgelöst und die Häftlinge in andere Lager gebracht.

Raymond Gurême schließt sich dem Widerstand an und wird 1943 für den Diebstahl eines Lebensmittellasters verhaftet. Diesmal wird er nach Deutschland in ein Arbeitslager deportiert, in der Nähe von Frankfurt am Main, wo ihm nach mehreren erfolglosen Versuchen 1944 die Flucht nach Frankreich gelingt. Dort schließt er sich wieder der Résistance an. Seine Einheit ist im Norden von Paris stationiert und begeht Sabotage-Akte gegen die Deutschen und ist Teil der Befreiung von Paris im August 1944. Mit der Befreiung oder dem Ende des Krieges ist das Leiden für Roma in Frankreich nicht vorbei: Die letzten „Nomadenlager“ werden erst im Juni 1946 geschlossen.

Nachdem Raymond befürchtet hatte, seine Familie habe die Lager nicht überlebt, erfährt er um 1950, dass seine Eltern und Geschwister in Belgien sind. Sie waren 1943 befreit worden, bekamen aber ihren Besitz nicht zurück. Wie für viele andere „Nomaden-Familien“ kam nach der Befreiung der soziale Abstieg, von dem sie sich nie erholten. Sie schlagen sich als Landarbeiter durch. Zur gleichen Zeit lernt Raymond Gurême seine Frau Pauline kennen. Auch sie ist eine Überlebende der Lager. Zusammen ziehen sie 15 Kinder groß. Ende der 1960er Jahre lässt sich die Familie auf einem Stück Land gegenüber dem ehemaligen Lager Linas-Montlhéry nieder. Über seine vielen Nachkommen pflegte er zu sagen: „Sie wollten uns verschwinden lassen, so habe ich mich gerächt.“

Nach dem Krieg legt sich der Mantel des Schweigens in Frankreich über der Geschichte der Roma-Lager. Für die Überlebenden der Lager gibt es keine Entschädigung, nicht einmal Unterstützung nach der Befreiung aus den Lagern. Lange hat Raymond gegen das Schweigen angekämpft. Erst in den 2000er Jahren begann sich die Situation zu ändern. Die Archive öffneten sich nach und nach und die Geschichte der Lager konnte aufgearbeitet werden. Erst 2016 hat der französische Präsident die Mitverantwortung für die Internierung von 6500 französischen Roma offiziell anerkannt.

Über seine eigenen Erlebnisse während des Krieges hat Raymond Gurême lange nicht gesprochen. Seit 2004 äußert er sich öffentlich und spricht im ganzen Land bei Veranstaltungen und in Schulen. „Die junge Generation darf nicht vergessen, damit sie nicht die gleichen Gräuel durchmacht, die wir erlebt haben“, sagte er.

2010 hat er die Gemeinschaft für das Gedenken an die Internierung der Roma und Fahrenden Leute des Lagers Linas-Montlhéry mit gegründet, die alljährlich am 27. November, dem Jahrestag der Eröffnung des Lagers, eine Gedenkzeremonie abhält und sich für eine Gedenkstele am Ort des ehemaligen Lagers eingesetzt hat. In 2011 erschien seine Erinnerungen Interdit aux nomades. Ein Jahr später wurde er vom Kultusminister für seinen Kampf gegen Diskriminierung als Chevalier des Arts et des Lettres (Ritter der Kunst und der Literatur) ausgezeichnet.

Bis zu seinem Tod war Raymond Ehren-Präsident des Pariser Vereins La Voix des Rroms. Kurz vor seinem Tod war er auch dieses Jahr bei der Kundgebung zum 16. Mai zur Erinnerung an den Aufstand der Roma im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Am 16. Mai sollte das sogenannte Z-Familienlager „liquidiert“, also alle 6000 Häftlinge ermordet werden. Durch ihren Widerstand konnten sie ihrer Ermordung zunächst entgehen. Diese Geschichte des Widerstands war lange vergessen. Die französischen Roma haben sie ausgegraben und mittlerweile wird der Tag in vielen Ländern als Roma Resistance Day gefeiert. Die Pariser Roma-Organisation feierte 2010 zum ersten Mal die „Fête de l‘insurrection Gitane“ (Fest des Roma-Aufstands), seit 2016 wird der Gedenktag auch in anderen Ländern zelebriert. Der Tag erinnert nicht nur an den Widerstand der Roma im Nationalsozialismus, sondern er dient immer auch dem heutigen Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung.

* Manouches sind die französischen Roma.

Mehr lesen in Englisch und Französisch.

Roma in Society. Reloaded
BulgarianCroatianEnglishFrenchGermanItalianPortugueseRussianSerbianSpanishTurkish