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United we talk – Interview mit dem Roma Center

United we talk – Interview mit dem Roma Center

Am 22. April 2020 haben Aktivist_innen und Geflüchtete wieder einen Blick auf verschiedene Aspekte der Corona-Krise geworfen und wie sie die Situation von Menschen in den Camps der Geflüchteten in Griechenland und entlang der sogenannten Balkanroute beeinflusst.

Ein Teil des Talks befasste sich mit Roma (ab ca. 1:20). Sie sind seit Jahrhunderten in Europa. Viele von ihnen sind in den Bürgerkriegen der 1990er Jahre nach Deutschland geflohen und leiden bis heute unter den Folgen. Die Kinder der Geflüchteten sind häufig hier geboren und kennen die Länder, in die sie abgeschoben werden und die dortigen Sprachen der Mehrheitsbevölkerung nicht. Ins Thema eingeleitet hat ein Film, den die Recherchegruppe zur Situation abgeschobener Roma im März 2020 in Serbien gedreht hat. Darin kommt eine Mitarbeiterin von Caritas in Belgrad zu Wort: „Es werden Menschen abgeschoben, die wir hier in keiner Weise registrieren können. 30 Prozent der Obdachlosen in Belgrad sind Rückkehrer. Wohnsitzanmeldung ist bei uns das A und O von Integration.“ Ohne Personalausweis kann man nicht arbeiten, keine Krankenversicherung, keine Sozialleistungen erhalten. Und einen Personalausweis bekommt man nur mit Wohnsitzanmeldung. Leider weigern sich Behörden regelmäßig, abgeschobene Roma anzumelden, auch wenn das Gesetz ggf. etwas anders vorsieht. Mit der Folge, dass die Menschen faktisch rechtlos sind.

Einer dieser Papierlosen ist Bajram, der letztes Jahr nach 29 Jahren in Deutschland nach Serbien abgeschoben wurde. Er ist in Kroatien geboren (in manchen Unterlagen wird der Geburtsort fälschlich nach Kosovo verlegt) und als kleines Kind mit seiner Mutter vor dem Krieg geflohen.

Auch Diana ist mit ihrer kleinen Tochter allein. Die junge Frau ist in Italien geboren, ihre Tochter in Deutschland und sie kann sie nicht anmelden, da sie keine internationale Geburtsurkunde hat. Nach ihrer Abschiebung sind die beiden obdachlos und müssen betteln.

Die Caritas Mitarbeiterin sagt: „Für die Roma ist keines der Balkanländer ein sicheres Land. Sie werden diskriminiert, auf Schritt und Tritt. Sie werden als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Die Kinder werden nicht in der Schule zugelassen.“

Ein Mitarbeiter des Roma Center war als Experte zur Situation abgeschobener Roma bei United we talk eingeladen. Hier die Verschriftlichung:

Kannst du aus deiner Erfahrung sagen: Wie ist die aktuelle Situation für Roma in Südosteuropa?

Was wir im Film gesehen haben, der Zustand von Roma, ist seit vielen Jahren ähnlich. 1999 sind viele Roma im Krieg um den Kosovo aus der Region in die anderen serbischen Gebiete geflüchtet, aber auch nach Westeuropa. In Serbien gibt es noch immer geflüchtete Roma, die aus dem Kosovo vertrieben worden sind. Deren Situation ist seit 20 Jahren die gleiche. Diejenigen, die nach Westeuropa geflohen sind, wurden oftmals bis heute nicht als Geflüchteten anerkannt. Es gibt Hetze und Kampagnen, die sie als Wirtschaftsflüchtlinge stigmatisieren. Dadurch hat sich auch der Rassismus und die Diskriminierung in deren Ländern verstärkt. Aber auch hier. In Deutschland haben wir jetzt Menschen, die hier geboren sind, 20, 25 Jahren hier gelebt haben und dann abgeschoben werden. Man merkt seit vielen Jahren, dass es keine Repräsentanten für Roma gibt, die dieses Problem lösen können. Stattdessen sind die Menschen allein und abhängig von Unterstützer_innen oder Familienmitgliedern, denn die Leute sind auf der Straße, haben keine Krankenversicherung, sind quasi illegal. Da sieht man auch, dass etwas faul ist in der Politik, sowohl hier wie auch dort.

Du hast gesagt, die Menschen haben keine Krankenversicherung. Was bedeutet das jetzt in Corona-Zeiten?

Wir bekommen ganz viel mit, dass in manchen Ländern Roma-Siedlungen isoliert werden und es keine richtige Unterstützung durch den Staat gibt. Menschen ohne Papiere bekommen keine Sozialleistungen. Jetzt sind Hygienemaßnahmen ganz wichtig: sauberes Wasser, Desinfektionsmittel. Die Menschen haben dazu keinen Zugang. Krankenversicherung existiert faktisch nicht. Wenn jemand krank ist, muss er selbst bezahlen. Aber das können sie nicht.

Vor kurzem ist eine schwangere Roma-Frau in Mazedonien gestorben, nachdem sie drei Tage lang in den Wehen und mit Anzeichen einer Entzündung immer wieder vom Krankenhaus abgewiesen worden ist und schlussendlich als Notfall nach Skopje geliefert wurde. Sie hatte Fieber und musste daher sechs Stunden lang vor dem Krankenhaus allein auf das Corona-Testergebnis warten. Sie ist schließlich operiert worden, aber für sie und das Baby kam jede Hilfe zu spät. Das Testergebnis war negativ. Sie ist wahrscheinlich in Folge einer Sepsis gestorben. Da sieht man auch wie schwach Roma-Politik in diesen Ländern ist. Die armen Leute, die von Rassismus und Diskriminierung betroffen sind, haben nicht mal eine Institution, an die sie sich wenden können. Deswegen kommen die Leute hierher.

Später werdet ihr auch Gypsy Mafia sehen. Das sind die Kinder, die in Deutschland aufgewachsen sind und irgendwann abgeschoben werden. Diese Kinder kommen immer wieder. Es ist nicht leicht, Leute nach 20 Jahren in ein Land abzuschieben, in dem es keine sicheren Strukturen gibt.

 

Zirkuläre Migration wird das oft genannt. Gerade die Kinder der damals Geflüchteten sind hier aufgewachsen, haben aber keine Bleibeperspektive, werden abgeschoben oder zur „freiwilligen Ausreise“ gezwungen, sind eine Weile auf dem Balkan, erfahren dort diese ganzen Diskriminierungen und kommen dann wieder hierher. Du hast gesagt: Sie finden kein zu hause. Das ist ja quasi Alltag. Wie ist das für die Betroffenen?

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Sehr schlimm. Was unsere Recherchen seit Jahren zeigen: Es wird immer schlimmer; die Kinder werden depressiv und suizidal. Sie sind hier aufgewachsen, sind in Demokratie und Freiheit aufgewachsen und dann müssen sie in ein Land, in dem sie niemanden kennen, dessen Sprache sie nicht verstehen. Viele Kinder reden nur Romanes und Deutsch. Und dann müssen sie in einem Land wie Kosovo Albanisch sprechen. Dann fängt die Diskriminierung an, auf der Straße, in der Schule. Die UNICEF hat in Berichten erwähnt, dass 75 Prozent der Kinder nicht mehr zur Schule gehen, nur wegen Diskriminierung und Rassismus. Und dazu kommt, dass sie diese Kinder nicht in eine Klasse einordnen können, weil die da ein ganz anderes Schulsystem haben als hier in Deutschland. Was wir hier in Westeuropa machen: Wir vernichten einfach die Zukunft dieser Kinder. In der EU-Politik wird die ganze Zeit darüber geredet, dass Roma sich integrieren sollen. Aber was ist jetzt mit diesen integrierten Kindern? Sie werden einfach irgendwohin geschickt, wo es keine Perspektive gibt, keine Schule, keine Arbeit.

Was können wir tun?

Jetzt in dieser Corona-Zeit brauchen wir als Gesellschaft einen Reset und diese Politik ändern. Wir müssen die Zeit nutzen, um uns bewusst zu machen, dass es so nicht weitergehen kann. Roma leben seit 600, 700 Jahren in Europa, sie sind Opfer des Nationalsozialismus geworden und nie richtig anerkannt worden. Bis heute haben wir diese Ideologie und Verfolgung gegen Roma. Das müssen wir ändern. Es braucht eine Aufenthaltserlaubnis für die langjährig Geduldeten. Die Politik muss endlich auf unsere Forderungen reagieren. Und auch die Supporter müssen verstehen, dass Roma nicht hier sind, weil sie arm sind. Die haben Jahrhunderte lang in diesen Ländern gelebt und sind in den Kriegen vertrieben worden.

 

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