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Wie ein Rom seit 50 Jahren die Welt erschreibt. Interview mit Jovan Nikolić.

Wie ein Rom seit 50 Jahren die Welt erschreibt. Interview mit Jovan Nikolić.

Jovan Nikolić ist ein in Köln lebender Roma-Schriftsteller. Er stammt aus einer Musiker:innen-Familie und hat eine Ausbildung zum Maschinenbautechniker absolviert. Jedoch ist es die Literatur, die ihn ein Leben lang begleitet. Schon in seiner Jugend begann er, Gedichte und Prosa zu verfassen. Seither hat er sein Repertoire um Kolumnen, Kabarett und Theater, sowie um Musiktexte erweitert. Bereits in seiner Heimat Jugoslawien wurde er mehrfach für seine Literatur ausgezeichnet, was sich auch nach seiner Niederlassung in Deutschland fortsetzte. Ende 2021 erschien der Sammelband “Der Gast nirgendwoher” im Drava Verlag.

Lieber Herr Nikolić, erst einmal vielen Dank für das Interview. Sie sind 1955 in Jugoslawien geboren. Als Rom und Serbe haben Sie gemischte Wurzeln – wie erleben Sie das?

Ich betrachte mich selbst als “Hybrid-Rom”, also das, was gemeinhin als “Meles” bezeichnet wird. Meine Mutter war Serbin aus Belgrad, mein Vater war Rom und Direktor der alten Post in Belgrad. Meine Mutter hat als Amateurin in Musikclubs gesungen, wo sie auch meinen Vater getroffen hat. Ihre Heirat war ein Skandal auf beiden Seiten der Familie, doch sie bekamen Unterstützung von den beiden Schwestern und der Mutter, die sie in Schutz nahmen. Ich selbst bin dann auch in Belgrad geboren. Bis zu meinem 11. Lebensjahr haben meine Schwester und ich mit unseren Eltern in Hotels gewohnt, weil wir mit der Musik in ganz Jugoslawien umhergezogen sind. Erst als ich 11 Jahre alt war, ist meine Familie in eine Roma-Siedlung umgezogen, in einem Ort namens Čačak, 160km von Belgrad entfernt. In der Schule war es deshalb sehr schwierig, sozial anzukommen, auch mit anderen Kindern aus Roma-Familien gab es Probleme. Zwischen den Stühlen aufzuwachsen, sozusagen “ohne Flagge”, hat sich angefühlt wie keine richtige Identität zu haben. Ich hatte nicht wirklich die Möglichkeit, Freundschaften zu formen und Privatsphäre hatte ich auch lange keine, weil wir nur ein Zimmer für die ganze Familie hatten.

Manchmal sind wir aber zusammen mit anderen Familien aus dem gleichen großen Orchester in dasselbe Hotel gezogen, die waren dann für mich die guten Freunde. In Deutschland habe ich keine solchen Probleme erfahren. Ich fühlte mich aufgehoben zwischen den anderen Künstler:innen. Es war ein multikulturelles Umfeld, in dem ich keinen Antiziganismus am eigenen Leib erfahren habe. Damit will ich nicht sagen, dass es diesen als gesellschaftliches Problem in Deutschland nicht gäbe, sondern lediglich, dass ich davon verschont geblieben bin.


Wie war die Übersiedlung nach Deutschland für Sie, und hat sich auch an Ihrem Schreiben etwas geändert, nachdem Sie Jugoslawien verlassen hatten?

Ich hatte Glück, dem NATO-Bombardement 1999 zu entkommen. Das Exil hat mich auf jeden Fall geprägt, aber auf vielschichtige Weise.

Nachdem ich in Serbien 1997 ein zweiseitiges Interview für die Zeitung Danas (Heute) gegeben hatte, in dem ich mich gegen Milošević und den Imperialismus ausgesprochen hatte, hat der Geheimdienst mich über das Telefon überwacht und beschattet. Meine Rettung kam mit der Einladung zur internationalen Roma-Akademie, für die ich ein einmonatiges Visum in Budapest bekommen hatte, allerdings ohne die Möglichkeit einer Verlängerung.

Nachfolgend habe ich in Deutschland Asyl beantragt. Ein Freund aus Berlin hat mir damals eine Anwältin organisiert, was sehr hilfreich war. Ich wurde dann zuerst im Asylheim in Eisenhüttenstadt untergebracht, zusammen mit vielen Tausend Leuten aus aller Welt. Bereits mein erster Antrag war erfolgreich – das ist für mich heute noch auf einen Eingriff Gottes zurückzuführen und war ein sehr großes Glück. Ich habe mich auf drei Literatur-Stipendien beworben und tatsächlich alle drei bekommen. Die Träger waren die Akademie der Künste in Berlin, die Heinrich Böll Stiftung, und das deutsche PEN-Zentrum. Diese Fügung war es meiner Ansicht nach, die dafür gesorgt hat, dass der Asylantrag angenommen wurde.

Eine Freundin hat die damaligen Werke ins Deutsche übersetzt. Meine zweite Frau war mit unserem Baby in Novosibirsk zu der Zeit. Sie kam mit dem Kind und wir konnten in der Unterkunft der Heinrich Böll Stiftung vier Monate lang wohnen. Dann kam der Auftrag vom Theater Pralipe in Mülheim an der Ruhr, dessen damaliger Direktor Rahim Burhan war, ein Theaterstück über die Roma-Tragödie im Kosovo zu schreiben. Kosovo mon amour, wie das Stück schlussendlich hieß, wurde in 3 Monaten Intensivarbeit zusammen mit meinem Schriftstellerfreund Ruždija Sejdović geschrieben. Es hatte Premiere in Mülheim, wurde bei der Expo 2000 in Hannover aufgeführt, sowie beim europäischen Festival in Recklinghausen. Das Stück hat auch uns geholfen, das Erlebte zu verarbeiten. Aber auch der Austausch und die Vernetzung mit den anderen internationalen Künstler:innen während der Stipendien-Aufenthalte haben mich als Schriftsteller geprägt und weitergebracht. Allerdings schreibe ich auch heute weiterhin nur auf Serbisch, weil es einfach meine Muttersprache im wahrsten Sinne des Wortes ist. Ich finde mich in ihr zurecht und wohl wie ein Fisch im Wasser.

Wie würden Sie das Verhältnis von Traum und Realität in Ihrer Literatur beschreiben?

Ja, der Traum ist das große Thema für mich. Ich erlebe auch bis heute regelmäßig luzide Träume und sie sind ebenso real oder wirklich wie die Realität im Wachzustand. Bis ich etwa 15 Jahre alt war, lebte ich im Inneren, in einer Welt aus permanenter Imagination. Ich war auch ein obsessiver Leser. Ab 15 war mein Erleben plötzlich ganz anders, das war auch der Zeitpunkt, an dem ich begann, zu schreiben. Damals benutzte ich noch die Schreibmaschine. Meine Freundin Sonja aus  Pula (Istrien, Kroatien), mit der ich Briefkontakt pflegte (und das auch weiterhin tue),  zeigte mir die Versform des Akrostichon. Das ist eine schwierige Form, die mich aber fasziniert hat, so dass ich sie seit 1974 selber kultivierte. 1977 schrieb ich dann auch das erste Mal in Liedform.

Ich fühlte mich oft wie in einer Fruchtblase, ein bisschen wie autistisch, und fand in den Träumen und im Lesen eine Art Exil vom äußeren Leben. Wenn ich Bücher auslieh, dann habe ich sie in zwei bis drei Tagen durchgelesen. Eines der ersten Bücher war Der letzte Mohikaner. Dann auch Der Baron von Münchhausen, hier hat mich das Paradigma des Lügners fasziniert. Till Eulenspiegel war das erste deutsche Buch, das mich ganz mitgerissen hat. Es handelt sich um eine sehr intelligente und witzige Figur und ich wollte aufwachsen und so werden wie er. Die phantastischen Erzählungen waren der Traumwelt sehr nahe. Das Schreiben ist wie das Lesen für mich in einer anderen Welt verortet. Die Visionen aus meinen eigenen Träumen verarbeite ich auch heute in meinem Schreiben.


Wie war es für Sie, für den Film Schwarze Katze, Weißer Kater von Emir Kusturica einen Songtext zu verfassen?

Songtexte sind für mich Musik-Illustration. Der Komponist kam damals mit dem Lied zu mir und hat mich gefragt ob ich auf Romanes einen Text dazu schreiben will. Zu der Zeit hatte ich schon mehrere Songtexte für serbische Rockbands geschrieben, die der Komponist kannte, vor allem die Balladen. Mein Songschreibeprozess ist dabei immer der gleiche: Ich erzeuge Alpha-Beta-Hirnwellen mittels Meditation. Dann höre ich den Song in Endlosschleife und zähle die Silben. Dann kommen die Ideen und ich versuche sie auf den Rhythmus anzupassen. Der Film war zu dem Zeitpunkt noch im Entstehen, und als der Komponist den Vorschlag für den Song hörte, nannte er ihn einen “Megahit”. Auf Youtube avancierte er zu einem Hit. Jedes Roma-Orchester in Jugoslawien hat das Lied gespielt.

Ich selbst habe davon erst viel später etwas mitbekommen, als ich etwa drei Jahre nach dem Film einen Brief von meiner Frau bekam, in dem sie mir erzählte, dass aufgrund der Autorenrechte nun Einkommen in allen möglichen Währungen generiert worden war. Mittlerweile ist es der größte Verdienst, den ich für ein einziges Lied je bekommen habe. Aus meiner persönlichen Perspektive ist das Lied künstlerisch gar nicht so bedeutend, weil es nicht meinem Anspruch entspricht. Aber es war wieder ein Eingriff (“Finger”) Gottes, weil das Geld gebraucht wurde – ich habe meinem Sohn den Betrag für sein Studium gegeben.


Inwiefern hat Sie das musikalische Erbe Ihrer Familie geprägt?

Das hat mich auf jeden Fall nachhaltig geprägt. Ich habe auch selber eine zeitlang in einem Rock-Orchester gesungen. Das, was ich dabei als meine “musischen Gene” bezeichne, hilft mir auch beim Finden eines Rhythmus im Schreiben. Und es hat es auch definitiv leichter gemacht, Texte für die Musiker später zu schreiben. Durch das stetige Reisen in meiner Kindheit hatte ich aber wie eben schon erwähnt keine reguläre Sozialisation erfahren. Ich denke, auch das hat mein künstlerisches Schaffen geprägt.


Sie haben sich beim Rom e.V. jahrelang für die Verständigung zwischen Roma und Nicht-Roma stark gemacht und auch eine Roma-Bibliothek aufgebaut – wie erinnern Sie sich an diese Zeit?

Der Rom e.V. war damals, als er noch in der Burgstraße angesiedelt war, sehr klein. Der Direktor war zu dem Zeitpunkt Kurth Holl. Weil ich Stipendiat gewesen war und gute Kritiken in Serbien bekommen hatte, wurde mir ein Job beim Rom e.V. angeboten. Ich habe Nachrichten über Roma in ganz Europa gesammelt und danach auch über neue Veröffentlichungen zu den Themen der Roma. Ich war schnell verantwortlich für die Neuanschaffungen und Erweiterungen in der Bibliothek.

Als wir 2017 zum Venloer Wall umgezogen sind, habe ich das Internetmagazin Nevipe gestartet. Die Roma-Kultur-Karawane, ein Bildungsprojekt, das über 24 zentrale Themen der Roma aufklärt, habe ich damals auch federführend gestartet. Ich tat es aus der Erkenntnis heraus, dass ein Großteil des Publikums keinerlei Wissen zur Kultur der Roma hat und Vorurteile vorherrschend waren.

Ich bin später zum Kulturmanager im Verein geworden und habe mehrere Ausstellungen und Diskussionen geleitet. Parallel dazu habe ich mit der Kultur-Karawane Reisen zu Schulen und anderen Bildungsorten unternommen, um gegen Diskriminierung fortzubilden. Das war das beste Projekt meines Lebens, weil die Leute sehr berührt und zur Veränderung angeregt waren. Es war edukativ, informativ, und natürlich auch politisch in seiner Konsequenz, auch wenn die starke Intention an sich nicht politisch war. Sensationelles Feedback gab es auch für eine Ausstellung über Roma- und Sinti-Sportler:innen in Berlin, das gab es vorher noch nie. Ich habe beim Rom e.V. bis 2015 aktiv gearbeitet, jetzt macht Ruždija das Kulturmanagement dort und das mit sehr viel Zielstrebigkeit und Enthusiasmus, sowie mit neuer Fokussierung.


Was ist Ihre Auffassung vom Alter und vom Tod?

Ich denke meine Ansichten diesbezüglich sind stark von anderen Kulturen geprägt. Ich habe nach dem Tod meines Vaters ungefähr zwei Jahre damit verbracht, mich intensiv mit dem Tod auseinanderzusetzen. Sein Tod war so ein schwerer Schlag für mich, dass ich mir die Frage nach dem Sinn des Todes einfach stellen musste. Ich las, was auch immer ich dazu finden konnte und lernte aus so diversen Quellen wie dem tibetischen und dem ägyptischen Buch der Toten, evangelischen und buddhistischen Texten. Siddharta z.B. soll Zeit seines Lebens zu dem Thema meditiert haben. In diesen Kulturen findet sich ein gänzlich verschiedenes Verständnis vom und Verhältnis zum Tod. Die tibetischen Mönche beispielsweise müssen Rituale zu ihrem eigenen Tod abhalten um sich bewusst damit auseinanderzusetzen. Ich habe mir in der Zeit sehr viele essayistische und anthropologische Aspekte zum Tod angeschaut, aber das war nicht ausreichend. Die ganzen Lektüren waren zwar bereichernd, haben meinen eigenen Zugang zu dem Thema aber nicht eröffnen können. Was für mich wirklich die herausragende Lektüre in diesem Spektrum war, war eine Lyriksammlung von Bettler:innen. Sie waren für mich persönlich wertvoller als die Bücher der Mönche. Das war ein gehöriger Schlag für meinen Ästhetizismus, der zwar seine Rolle nicht eingebüßt hat, für den der Inhalt jedoch so zur Basis wurde. Es hat mich emotional sehr berührt, dass ich die nötige Kraft in den Liedern der Bettler:innen gefunden habe.

Mein eigener innerer “Film” zum Thema Tod hat allerdings nichts mit Himmel, Hölle oder Reinkarnation zu tun – es interessiert mich im Endeffekt nicht. Mein Film entspricht dem, wie die Natur es handhabt: Ein Wolf hält keine Bestattungen ab, ein Spatz fällt tot vom Baum wie die Blätter im Herbst. Es gehört einfach zu ihrem Leben dazu zu sterben. Es weint ja auch niemand, wenn Zivilisationen untergehen – siehst du die Parallele? Ich bin jetzt 67 Jahre alt. Der Tod ist einfach eine notwendige Figur in unserem Lebensballett. Der Moment meines eigenen Sterbens wird sehr intim, wie wenn ich bete – ich rede leise mit meinem Gott. Das ist so ähnlich wie der Tod im Existenzialismus von Albert Camus.

Was das Alter betrifft, so bin ich dankbar für die Lebenserfahrung, die ich habe. Meine künstlerische, emotionale und menschliche Intelligenz möchte ich mir erhalten. Und meinen klaren Kopf will ich weiterhin nutzen, um das, was ich sehe, klar auszudrücken. Ich weiß, was die menschliche Seele ist und ich respektiere jeden Menschen in dieser Welt. Ich empfinde Empathie mit allen.


Als Schriftsteller stehen Sie vor der Herausforderung, nicht bloß zu wiederholen, was bereits gesagt wurde. Sie haben dazu mal die Rolle des Perspektivwechsels folgendermaßen beschrieben: “Drei Millimeter nach rechts und du findest eine total neue Welt” – welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Am Ursprung bin ich stark von der Lektüre der internationalen Klassiker beeinflusst – ob Poesie, Prosa, Essays oder andere Formen. Irgendwann drängte sich die Frage nach der eigenen Rolle auf. Und die Antwort, die ich fand, lautete: Mach deine Originalität zu deinem Inhalt. Ich drehe lieber drei Mikron nach links oder rechts als drei Millimeter, das ist unendlich wirksamer. Ich würde kein Pastiche von irgendwem werden wollen. Eigene Augen, eigenes Denken, eigene Sensibilität – das war mein Anspruch an mein Schaffen. Und auch hier griff “Gottes Finger” nochmal ein, denn ich habe es auch so geschafft.

Die Rolle meiner letzten Veröffentlichung mit gesammelter Poesie ist für mich sehr persönlich, denn sie zeugt von großer Autonomie. In unserer Zeit ist es ein absolut subversives Buch, welches sich entschieden gegen die sich immer weiter materialisierende Dystopie wehrt. Unsere Welt ist momentan in einer schrecklichen Lage. An sich ist das Leben ja eigentlich ein Wunder der Fülle – Fülle an Schönheit und Geheimnis, ein Mysterium. Diese geben die Töne und die “Gewürze” zum Leben dazu. Leben ist eine unglaubliche Möglichkeit, ein kosmisches Wunder. Dieses Buch ist mein persönlicher Protest, zum Erhalt dieses Wunders.

Jovan Nikolić: Der Gast nirgendwoher. Gesammelte Lyrik

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