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Ein Jahr nach dem „Pogrom“ in Odessa sehen sich die Roma in der Ukraine einem Anstieg der Selbstjustiz gegenüber

Ein Jahr nach dem „Pogrom“ in Odessa sehen sich die Roma in der Ukraine einem Anstieg der Selbstjustiz gegenüber

London. Nachdem die verstümmelte Leiche eines neunjährigen Mädchens in einem Wald nahe der ukrainischen Hafenstadt Odessa gefunden worden war, verbreiteten sich innerhalb von Stunden Gerüchte, ein ortsansässiger Rom sei verhaftet worden – und gewalttätige Vergeltung folgte.

Am gleichen Augusttag letztes Jahr verunglimpften lokale Entscheidungsträger_innen bei einem Treffen Roma als Kriminelle und verlangten Zwangsräumungen, während der Mob Häuser umkreiste, Gebäude mit Steinen bewarf und eine Community verwüstete, in der seit einem Jahrzehnt viele Roma lebten – so Menschenrechtsgruppen.

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Anfang September waren die zwei Dutzend Roma, einschließlich 17 Kindern, geflohen.

Ein Jahr später befinden sie sich immer noch in Notunterkünften in Ismail, im Südwesten der Ukraine. Sie sagen, es sei ihnen unmöglich, nach Loshchinovka zurück zu kehren, da sie laut Roma Human Rights Center (RHRC) weitere Gewalt fürchten.

Menschenrechtsgruppen zufolge folgt der Angriff einem Muster fremdenfeindlicher „Pogrome“ gegen Roma in der Ukraine, vor denen der Staat die Augen verschließe.

Die Vorfahren der Roma stammen aus Indien. Im 10. Jahrhundert migrierten sie nach Osteuropa, wobei ihre Geschichte von Verfolgung geprägt ist.

Seit der Ukrainischen Revolution „Euromajdan“ im Jahr 2014 seien die Behörden, die in einer Serie wirtschaftlicher und politischer Krisen und in einem Konflikt mit dem russisch dominierten Osten feststecken, daran gescheitert, Sicherheit für Roma zu garantieren, so Volodymy Kondur, der Leiter des RHRC in Odessa.

„Die Situation in der Ukraine ist komplizierter geworden: Roma sind nicht geschützt, der Staat ist nicht in der Lage, Sicherheit zu bieten,“ erzählte Kondur, der als Repräsentant der betroffenen Communitys in Ismail arbeitet, Reuters.

In der Ukraine leben laut European Roma Rights Centre zwischen 120.000 und 400.000 Roma, die mit Armut und Diskriminierung konfrontiert sind, nur einen begrenzten Zugang zur Justiz haben und deren Eigentumsrechte kaum geschützt sind.

Seit dem Aufstand in Odessa gab es mindestens acht Massenangriffe auf Roma, sowohl in den Metropolregionen Kiev, Charkiw und Lviv als auch in den ländlichen Gebieten Transkarpatien und Tschernigow, so Kondur.

Der ukrainische Innenminister sagte, dass seit den Angriffen 20 Polizist_innen in Odessa ausgebildet worden sind, um ihnen beizubringen, wie man mit Hassverbrechen umgeht und wie man diskriminierungsfrei in Roma-Communitys ermittelt.

Ein Sprecher äußerte, die Polizei und lokalen Behörden planten weitere Übungen, um eine Kooperation mit Roma-Communitys zu fördern. Dazu gehört auch eine Reihe von Kursen für Roma zu rechtlichen Grundlagen.

„Wer die Nachtigall stört“ auf Ukrainisch

In Odessa steht der 22jährige Rom Mykhaylo Chebotar unter Arrest. Er wird beschuldigt, das kleine Mädchen vergewaltigt und ermordet zu haben. Das Gerichtsverfahren soll laut Ukrainian Human Rights Information Center am 19. Oktober fortgesetzt werden.

Aktivist_innen sagen jedoch, eine gesamte Community sei kollektiv mit Exil bestraft worden.

Oleg Shynkarenko, Autor und Aktivist der Interessenvertretung Ukrainian Helsinki Human Rights Union (UHHRU), vergleicht die Geschichte mit einer ukrainischen Nacherzählung von Wer die Nachtigall stört, einem Roman über einen Anwalt, der einen wegen Mordes angeklagten Schwarzen in dem von Rassenhass geprägten amerikanischen Süden verteidigt.

„Niemand weiß, ob dieser Rom der tatsächliche Mörder ist, da der Prozess noch nicht zu Ende ist. Aber die Lokalbevölkerung hat die Häuser von Roma zerstört, und die Behörden haben es nicht verhindert oder gar verurteilt,“ so Shynkarenko gegenüber Reuters.

Die Regionalverwaltung von Odessa hat weder auf schriftliche Anfragen noch auf Anrufe reagiert.

Micheil Saakaschvili, der frühere Präsident Georgiens, der dann Gouverneur des Verwaltungsgebiets Odessa war, hob Chebotar in einer Pressekonferenz am Tag nach dem Angriff als Schuldigen im Mordfall hervor.

Saakashvili sagte, er verstünde die Wut gegen Roma und behauptete, Chebotar gehöre zu den „asozialen Elementen“ des Ortes, die „in großem Ausmaß mit Drogen dealen“.

Solche Pauschalurteile sind „bezeichnend dafür, wie Roma in der Ukraine regelmäßig behandelt werden,“ erklärte Neil Clarke, Geschäftsführer von Minority Rights Group International.

Gibt es bald Gerechtigkeit?

Kondur zufolge machen die Behörden keine Angaben darüber, wann die Roma-Familien nach Loshchinovka zurückkehren könnten oder warum die Polizei nicht intervenierte, um die Selbstjustiz zu stoppen.

Den Forderungen von Menschenrechtsgruppen, den betroffenen Roma eine alternative Unterkunft anzubieten, wurde nicht nachgekommen. Die Behörden machten den Krieg und die wirtschaftlichen Probleme des Landes dafür verantwortlich, dass sie keine Wohnung anbieten könnten, fügte er hinzu.

Versuche der Community, vor Gericht Gerechtigkeit zu erlangen, gehen nur langsam voran, aber im April hat die UHHRU-Anwältin Julia Lisova eine Anhörung vor dem ukrainischen Verwaltungsgericht erwirkt. Dort wird geprüft, ob die Rechte von Roma verletzt worden sind, als die Behörden es nicht schafften, sie vor den Angriffen zu schützen.

„Wenn wir ein Ergebnis im Sinne der Roma bekommen, wird die Gesellschaft verstehen, dass Verbrechen immer bestraft werden. Dann werden die Leute über ihre Taten nachdenken, bevor sie sie verüben,“ sagte Kondur.

Übersetzung des Artikels vom 25. September 2017 auf Voice of America

 

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