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Man braucht einen sicheren Ort

Man braucht einen sicheren Ort

Interview mit der Göttinger Psychologin Dr. Maria Belz über psychische Erkrankungen bei jungen und erwachsenen Geflüchteten.

Welche gesundheitlichen Auswirkungen hat eine Fluchterfahrung auf Menschen?

Geflüchtete können natürlich die gleichen Erkrankungen haben wie Menschen ohne Fluchterfahrung. Eine der häufigsten psychischen Störungen bei geflüchteten ist die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Es gibt aber auch Geflüchtete, die z.B. unter Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Suchterkrankungen oder anderen Störungen, einzeln oder in Kombination mit einer PTBS leiden. Bei traumatisierten Kindern kann sich die Symptomatik nochmal anders als bei Jugendlichen und Erwachsenen zeigen, zum Beispiel in Bettnässen oder dass sie traumatische Erlebnisse im Spiel immer wieder durchspielen oder dass sie aggressiver sind oder sich kindlicher Verhalten, als es ihrem Alter entspricht (z.B. Angst allein zu sein).

Können Sie einschätzen, wie viele Geflüchtete von einer psychischen Erkrankung betroffen sind?

Es gibt relativ wenige Studien und verlässliche Zahlen. Laut Studienlage kann man davon ausgehen, dass zwischen 16 und 55% der Asylbewerber an einer PTBS leiden (siehe dazu Bozorgmehr et al., 2016). Aber nur eine Minderheit kommt in die Behandlung.

Weil sie keinen Zugang hat?

Ja, das Gesundheitssystem ist nach wie vor nicht ausreichend für Geflüchtete geöffnet. Es gibt zahlreiche Barrieren, die behindern, dass Geflüchtete den gleichen Zugang zur Versorgung bekommen. Hierzu zählen z.B. fehlende Ressourcen zur Überwindung von Sprachbarrieren. Auch gibt es Gründe seitens der Betroffenen, sich nicht in Behandlung zu begeben: Es gibt sicherlich Betroffene, die mangels Vorwissens vielleicht die Symptome gar nicht einordnen können. Natürlich auch weil es eine Hemmung gibt, die gibt es ja bei deutschen Patienten auch. Oder weil sie es gerade noch selber versuchen zu kompensieren. Es ist bei vielen Patienten so, dass sie sich erst über Jahre selber mit ihrer Erkrankung rumschlagen, bevor sie in die Behandlung kommen.

Wie wirkt sich eine psychische Erkrankung der Eltern auf die Kinder aus?

Wenn Kinder merken, dass Eltern psychisch belastet sind, kann es sein, dass sie selbst Symptome ausbilden. Es ist ein permanenter Stress in der Familie. Kinder neigen dann auch dazu, schneller zu reifen als es eigentlich gesund ist. Es kann auch vorkommen, dass Kinder aggressiv werden oder dass sie depressiv zurückgezogen werden. Natürlich hängt das auch damit zusammen, dass Eltern nicht mehr die Unterstützung bieten können, wie gesunde Eltern das können.

Manche Geflüchtete haben ja keinen sicheren Aufenthalt, sind nur geduldet, auch wenn sie schon Jahre oder Jahrzehnte hier leben. Wie wirkt sich diese Situation auf die Menschen aus?

Fatal. Die Unsicherheit ist das, was aus meiner Sicht am meisten belastet. Diese permanente Unsicherheit: Darf ich jetzt hierbleiben oder muss ich dorthin zurück, wo ich denke, dass ich nicht in Sicherheit bin – das ist fast noch schlimmer als die Rückkehr selber. Weil die Leute einfach permanent in Angst sind, permanent nicht wissen, was mit ihnen morgen sein wird. Wenn man nicht weiß, was morgen sein wird, ist man weniger motiviert, irgendwas zu unternehmen, um sich zu integrieren, was verständlich ist. Und dann ist das so ein Teufelskreis: Die Leute sind inaktiver,  auf der einen Seite, weil sie lange Zeit nicht durften, auf der anderen Seite, weil man ihnen keine Perspektive bietet. Das macht natürlich auch depressive Entwicklungen schlimmer, weil die ganze Situation dazu führt, dass sie eigentlich nur noch zu Hause sitzen können. Das sieht man hier in der Praxis ganz oft, dass dann zur Traumatisierung noch eine Depression dazu kommt. Und am Ende wird wiederum von diesen Menschen gefordert, Integrationsleistungen darzulegen, um einen Aufenthalt zu bekommen. Das ist absurd.

Welche Folgen hat diese Situation für Jugendliche und Kinder in ihrem Alltag?

Ich finde es relativ natürlich, dass die Jugendlichen irgendwann keine Lust mehr haben, wenn sie gar nicht wissen: „Darf ich überhaupt die Schule zu Ende machen? Darf ich danach eine Ausbildung machen? Ist doch eh alles egal.“ Es ist total verständlich, dass sie so reagieren. Denn sie haben ja keine Perspektive. Die anderen wissen, wenn sie ein gutes Abi haben, können sie studieren oder eine Ausbildung machen. Eine Zukunft. Perspektivlosigkeit ist vor allem bei Jugendlichen das große Problem. Sie wissen überhaupt nicht, wofür sie sich anstrengen sollen.

Die permanente Ängstlichkeit und Anspannung kann sich in verschiedenen psychischen Symptomen äußern, aber auch in psychosomatischen Beschwerden. Angst macht Anspannung, Anspannung macht zum Beispiel Kopfschmerzen. Es gibt auch Kinder und Jugendliche, die es schaffen, damit klar zu kommen, ohne krank zu werden. Das kann ich immer nur bewundern.

Wie wirkt es sich auf die Betroffenen aus, wenn die Polizei in die Schule kommt, um ein Kind zur Abschiebung abzuholen?

Wenn man das so macht, bedeutet das ja, dass man eher die abschiebt, die sich integrieren, die in die Schulen gehen und dadurch das Amt weiß, wo man sie antrifft. Man bestraft genau das: Ein Kind geht regelmäßig in die Schule und ist sicher dort anzutreffen. Das bedeutet auch für die, die es noch nicht getroffen hat und es mitkriegen, dass die Schule nun auch kein sicherer Ort mehr ist. Und man braucht einen sicheren Ort, um richtig lernen zu können.

Eine solche Abschiebung kann sich auch auf die psychische Stabilität der Mitschüler_innen negativ auswirken. Natürlich nimmt sie das mit. Das kann soweit gehen, dass Symptome einer psychischen Erkrankung auftreten. Und bei Lehrkräften sicherlich auch. Es bringt Unruhe in den Schulbetrieb. Wie sollen Schüler_innen sich da noch sicher fühlen?

Wie wirkt sich eine Abschiebung auf die Gesundheit der Betroffenen aus?

Man unterscheidet zwischen Gesundheitsfolgen vor der Abschiebung (also durch die Androhung), durch die Abschiebung selber und nach der Abschiebung. Mittlerweile sichern die zuständigen Behörden sich ja so ab (z.B. durch medizinische Maßnahmen, Fixierung), dass die Leute sich während der Abschiebung nichts mehr antun können. Das kann an sich ein weiteres traumatisierendes Erlebnis sein. Nach der Abschiebung kann es sein, dass die Leute immer noch objektiv in Gefahr sind und dementsprechend auch wieder traumatisiert werden können. Durch eine Traumatisierung kann sich eine Person aber auch subjektiv in Gefahr fühlen, und dann hat das dieselbe Auswirkung. Es kann daher passieren, dass sie sich umbringt oder die Symptome so stark werden, dass sie sich nicht mehr versorgen kann. Das kann lebensbedrohlich werden.

Traumatisierte haben eine geringere Stresstoleranz als Gesunde. Daher können sie stresshafte Ereignisse wie eine Abschiebung nicht so gut verarbeiten wie das gesunde Menschen können. Das sorgt dann für diese extreme Symptomzunahme oder impulsive Handlungen wie Selbstverletzungen oder Suizidversuche.

Dr. Maria Belz ist Dipl.-Psychologin. Sie arbeitet mit dem Schwerpunkt Kulturen, Migration und psychische Krankheiten und behandelt u.a. Geflüchtete.

Bozorgmehr, K., Mohsenpour, A., Saure, D., Stock, C., Loerbroks, A., Joos, S., & Schneider, C. (2016). Systematische Übersicht und “Mapping” empirischer Studien des Gesundheitszustandes und der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland (1990-2014). Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 59(5), 599–620.

 

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